"Es gibt nur eine Maxime - das ist die, daß man sich mit dem Tode befreunden muß." (Jünger, Strahlungen)

Mittwoch, 28. Februar 2007

Pragmatismus

Das Gespräch mit den chinesischen Mitbewohnern als Bergwerk der Anekdoten. Nach einer jener Völlereien, die man einem so filigranen Menschenschlag nicht zutraute, kommentierte der Koch: „Nach einem guten Essen muss man sich eine Frau suchen.“ Solch verdichtete Gedanken geben einen guten Eindruck davon, von welchem Schlage diese Leute sind: Pragmatiker und darunter die sympathischeren.

Mit fortschreitender Stunde berührte das Gespräch auch den Zweck von Geschenken, ihre rein materielle, so gern überspielte Seite. Der Chinese erzählte von einem Freunde, der um ein hübsches Mädchen warb. Ihre Schönheit war sein Unglück, sie hatte die größere Wahl. Er aber hatte Willen und schickte ihr drei Monate lang Blumen und Pralinen. War sie nicht da, so schlich er sich in ihre Wohnung – die Mitbewohnerin war gnädig – und kochte für sie. Am Ende gab sie nach. Seitdem sitzt er meist vor dem Bildschirm und lässt sich von ihr bedienen. Der Chinese erzählte das in bewunderndem Tonfall. Es überraschte nicht, wenn diese Geschichte mythologische Wurzeln hätte.

Das Geschenk bedeutet Zusammenarbeit, könnte die Moral lauten. Der Beschenkte kann dabei sogar mehr verlieren als gewinnen. So besehen ist es ratsam nur der Geschenkbote zu sein – ihm fällt der bessere Teil zu.

Dienstag, 27. Februar 2007

obskur

Seit einigen Tagen erregt ein kurioser Vorfall die Gemüter: Ein 14-jähriger Junge wiegt 178 Pfund, weil er gefräßig ist und seine Mutter ihn ununterbrochen – manche sagen: zu Tode – füttert. Es wurde erwogen, ihr das Sorgerecht abzuerkennen und „Fat Boy“ in ein Heim zu überweisen. Das ist symptomatisch für ein Land, in dessen obskurem Interesse an der „underclass“ noch das 19. Jahrhundert nachklingt.

Detail: Einige Wochen zuvor sind in Cambridgeshire zwei Brüder wegen Tierquälerei veurteilt worden; sie hatten ihren Hund falsch gefüttert, so dass der zu einem amorphen, schnaufenden und zuletzt blinden Fleischklumpen aufgedunsen ist. Der Fall wird im Zusammenhang mit „Fat Boy“ oft erwähnt. – Nennt man das nun einen Präzedenzfall oder Evolution?

Sonntag, 25. Februar 2007

memento mori

Zu den Vorzügen der Unterkunft zählt die Nähe zu dem örtlichen Friedhof und Krematorium. So sind hin und wieder Trauerzüge auf der Strasse zu sehen. Vorneweg der Leichenwagen, der hierzulande einem fahrenden Schaukasten ähnelt: Heck- und die Seitenfenster sind nicht getönt; man sieht den massiven Sarg gleichsam thronend, umgeben von wuchtigen Grabkränzen. Dahinter kommen die meist schwarzen Limousinen. Wie schon bei dem Leichenwagen ist die gesellschaftliche Position ablesbar: Wer viel vorzustellen hat in der Welt, der lässt sich in einer schwarzen Stretchlimousine chauffieren – auch wenn das Ziel für alle dasselbe ist. An einem Tag saß eine schöne junge Frau in einem der Wagen; der Trauerflor verlieh ihr en Zügen Zeitlosigkeit, die kein Make-up nachahmen kann. Vielleicht waren es auch die geahnten Tränen.

Diese Szenen sind emblematisch: memento mori. Man sieht in den Gesichtern der Umstehenden, wie für Sekunden das allgemeine Treiben alle Bedeutung verliert und der Sarg die Gedanken an sich heranzieht. Dann springt die Ampel wieder auf Grün.

Später am Tag. Der Tod der Ente, die langsam im Fluß dahintreibt, wirkt grotesk.
Warum eigentlich? Ihr Tod ist nicht kleiner.

Samstag, 24. Februar 2007

Amüsement & Schmerz

In Mexiko hat der Themenpark „Illegale Immigranten“ eröffnet. Für etwa 15 € übernehmen die Besucher einige Stunden lang die Rolle ihrer in die USA emigrierenden Landsleute. In der nächtlichen Wüste werden sie von schreienden und schießenden „Minutemen“ gejagt, schließlich festgesetzt. Eine ausgefallene Version des Versteckspiels, könnte man meinen.

Bemerkenswert: Amüsement und großer Schmerz verlaufen ineinander. Das ist nicht neu. Nach dem ersten Weltkrieg durchwühlten erst die Schrottsammler und Schatzsucher die ausgebrannte Erde der Schlachtfelder; nachher kamen die Touristen. – „Man erlebt alles und man erlebt auch das Gegenteil.“

Donnerstag, 22. Februar 2007

Auftakt

Vor 58 Jahren schrieb der Vollender des Tagebuchs, dass es das letzte mögliche Gespräch im totalen Staat bleibe.

Er hätte dies ruhig ausweiten können. In jeder Gemeinschaft, und rühme sie sich auch der persönlichen Narrenfreiheit dieser Zeit, bleiben die eigentlichen Worte unausgesprochen. Es bleibt die Sprache des Jargons, egal ob bei Behörde, Bau oder Belletristik. Das Rohmaterial findet nur noch in Fugen Platz: Träume, gedachte Briefe, Tagebücher. Sie enthalten die Gedanken, die auch im billig-obszönen Informationszeitalter niemand wissen soll.


Diese Annahme ist und war Illusion. Wer die Feder ansetzt, um „Persönliches“ zu notieren, schreibt für andere – und weiß das. Jedes Tagebuch setzt den Leser voraus und sei es nur der gealterte, veränderte Autor. Selbst noch in der vollkommensten Isolation wird das Tagebuch nicht um seiner selbst willen geschrieben: Robinson Crusoe führt bei aller Aussichtslosigkeit seiner Lage Tagebuch; als ihm die Tinte ausgeht, führt er es im Zwiegespräch mit Gott fort.


Die Entscheidung, diesen vermeintlichen Rückzugspunkt in die Öffentlichkeit des Internets zu verlegen, nimmt ihm den Rest seiner naiven Würde. Zugleich wird das Tagebuch wieder mehr jenes letzte mögliche Gespräch: Wo alle es lesen können, da ist die Wahrscheinlichkeit, dass es überhaupt einer liest, gering. Gebundenes Papier hält vielleicht irgendwann irgendjemand für wertvoll – ein paar bytes vergehen dagegen im Ephemeren, spätestens mit der nächsten großen Revision.