Vor 58 Jahren schrieb der Vollender des Tagebuchs, dass es das letzte mögliche Gespräch im totalen Staat bleibe.
Er hätte dies ruhig ausweiten können. In jeder Gemeinschaft, und rühme sie sich auch der persönlichen Narrenfreiheit dieser Zeit, bleiben die eigentlichen Worte unausgesprochen. Es bleibt die Sprache des Jargons, egal ob bei Behörde, Bau oder Belletristik. Das Rohmaterial findet nur noch in Fugen Platz: Träume, gedachte Briefe, Tagebücher. Sie enthalten die Gedanken, die auch im billig-obszönen Informationszeitalter niemand wissen soll.
Diese Annahme ist und war Illusion. Wer die Feder ansetzt, um „Persönliches“ zu notieren, schreibt für andere – und weiß das. Jedes Tagebuch setzt den Leser voraus und sei es nur der gealterte, veränderte Autor. Selbst noch in der vollkommensten Isolation wird das Tagebuch nicht um seiner selbst willen geschrieben: Robinson Crusoe führt bei aller Aussichtslosigkeit seiner Lage Tagebuch; als ihm die Tinte ausgeht, führt er es im Zwiegespräch mit Gott fort.
Die Entscheidung, diesen vermeintlichen Rückzugspunkt in die Öffentlichkeit des Internets zu verlegen, nimmt ihm den Rest seiner naiven Würde. Zugleich wird das Tagebuch wieder mehr jenes letzte mögliche Gespräch: Wo alle es lesen können, da ist die Wahrscheinlichkeit, dass es überhaupt einer liest, gering. Gebundenes Papier hält vielleicht irgendwann irgendjemand für wertvoll – ein paar bytes vergehen dagegen im Ephemeren, spätestens mit der nächsten großen Revision.