"[Wir] stürzen vom Strohlager mit Ruhranfällen, die uns den Unterleib wie mit Zangen zerkneifen, zur Latrine und besudeln uns, drei Schritt vor der Stange zerberstend, auf eine unbeschreiblich gemeine und ekelhafte Weise, alles mit Unterhose, Hemd und Strümpfe auffangend, die wir nur mit einem gestern genau so niederträchtig zugerichteten Unterzeug wechseln können....und das dreiundzwanzigmal in zwei Wochen, ein liebliches Heldentum, von dessen Vorhandensein sich zu Hause kein Mensch was träumen läßt...aber die Läuse ziehen es wenigstens vor, diese wandelnden Kothöllen zu verlassen, und das will was heißen: selbst die Läuse! Und da soll man nicht geradezu rasend werden und auf Gedanken kommen, die im Interesse des Krieges höchst unerwünscht sind! Wer wagt es, dagegen den Mund aufzutun, vielmehr das Maul aufzureißen und uns um diese ertragenen Leiden durch Wegleugnen hinterlistig begaunern zu wollen! Ja, das war die Romantik des Kots, der in den Schweiß- und Drecklappen von Wäsche festtrocknete und bei jedem Schritt schlimmer als Läuse die Haut zerkratzte, in kleinen Blättchen abschilferte und sich als Staub in Stiefeln und Strümpfen ansammelte. Pfui Teufel!“ (Franz Schauwecker, Der feurige Weg)
"Es gibt nur eine Maxime - das ist die, daß man sich mit dem Tode befreunden muß." (Jünger, Strahlungen)
Mittwoch, 31. Oktober 2007
Freitag, 26. Oktober 2007
In dieser großen Zeit
Wien, Heldenplatz. Mit einer großen Soldatenspielerei ("Bundesheer") feiert das Land den Abzug der letzten sowjetischen Truppen vor 52 Jahren. Brave Volksfeststimmung. Soldaten exzerzieren zu bekannten Melodien aus Western-, Action- und Science Fiction-Filmen. Auch den Walzer quittieren sie mit den gleichen militärischen Lachnummern; die Menge kann die abgehackten Bewegungen der verkrampft dreinblickenden Helden auf Großbildschirmen verfolgen. Einige Meter entfernt überwachen zwei dicke Generäle die Operation ihrer Soldaten. Der Eindruck von roten Nasen, alten, faltigen Hunden und Brandwein drängt sich auf. Nach der Schau drängen die Menschen zu dem ausgestellten Kriegsgerät. Es darf angefasst und fotografiert werden. Kinder kriechen in Panzer und lugen aus Geschütztürmen hervor: "Feuer!" In einem Tarnzelt verteilt ein gutmütiger Schwejk etwas an die Anstehenden. Es sind Automatikgewehre und Schwejk erklärt mit liebenswürdiger Gemächlichkeit, wie sie entsichert und angelegt werden, wie sie bei Regen und Schlamm noch ihren Dienst verrichten und anderes mehr. Wozu sie gut sind, hat er vergessen.
Am Abend bläst ein Soldat zum Zapfenstreich. Der Offizier in der Nähe hält die rechte Hand an die Brust und lauscht andächtig. Deklamierte daraufhin "In den Wind gereimt", die beliebte Rubrik eines weit verbreiteten Schmierblatts: "Das große nationale Fest / taugt heute nur noch zum Protest. / Denn feiern können nur, die heucheln / weil sie alles meucheln / was einst zum Frieden Anlass gab. / Sie schaffen unsere Freiheit ab, / Demokratie, Neutralität, des Volkes Souveränität, / und opfern alles der EU. / Wir aber schweigen nicht dazu!" - Vivat Austria!
Donnerstag, 25. Oktober 2007
Hans im Glück
Wien, Zentralfriedhof. Nieselregen bei trauergrauem Himmel. Am Haupteingang vermischt sich der Geruch der Grabkränze mit dem der Fressbuden. Es erstaunt, wie viele Händler hier ihr Auskommen zu finden scheinen. Doch dann ist dies der zweitgrößte Friedhof Europas und auch einer der betriebsamsten. Große Verwaltungsbauten direkt hinter dem Portal, in allen Ecken Besucher und Hinterbliebene, und seit kurzer Zeit auch Autos auf den breiten Wegen. Sogar eine eigene Buslinie verkehrt hier. Konzessionen an einen bizarren Betrieb; "death is not the end".
Während der Stunden an diesem Ort, in denen der Lebensgeist allmählich dem Regen, der Kälte und den verwitterten Steinen nachgibt, eine Lektion in der Nichtigkeit von Titeln. "Commerzial-Rat", "Haus- und Realitätenbesitzer", "Rechtsprofessor", "Tischlermeistergattin" - Spleen eines Volkes, in dem solche Namenszusätze gern gesehen sind und in dem selbst der "Herr Magister" Achtung verlangen darf. An diesem Ort des Vergessenwerdens gelangen sie zu ihrem höchsten Ausdruck.
In einer Arkadengruft ein "provisorisches" Grab von 1919: "Unser Hans", 22 Jahre alt. Die einfache Steinplatte wirkt stärker als der Marmor und die Standbilder um sie herum. Sie zeugt von dem tiefen Schmerz, den die Seinen litten. Was mit ihnen geschehen sein mag, dass dieses Grab "provisorisch" blieb? Der Tod des Sohnes fällt nicht zufällig zusammen mit dem Untergang Österreich-Ungarns. Eine winzige Kerbe der Geschichte.
Hinter einer Gräberreihe das Gespräch einiger Totengräber mitgehört. Taxieren den Wert von Steinen und Begräbnissen. Es handelt sich offenbar um einträgliche Dienstleistungen. Dieweil fürchtet sich irgendwo ein altes Mütterchen zu sterben, weil es nicht das Geld für ein ordentliches Begräbnis hat. Angewidert von dem Konformitätsdruck dieser letzten Orte einem anderen Totengräber beim Ausheben eines alten Grabes zugesehen. Die Grube spuckt lehmige Erdklumpen aus, die auf den Erdhaufen daneben klatschen. An Tiere und Kinder gedacht, bis der Spaten auf Holz stößt. Es hilft nicht, das Entwürdigende dieser Verwaltungsmaßnahme zu übersehen.
Auf der "Kriegersektion" des Friedhofs, weit am Rande und gegenüber einem Rangierbahnhof. Die in den Boden eingelassenen Steinplatten sind von Moos bewachsen, einige zerbrochen, die Namen oft vom Regen ausgewaschen. Nur die eisernen Kreuze sind dann noch zu erkennen. Das Betonkreuz eines 22jährigen, eines anderen Hans, der "für Kaiser und Reich" gefallen ist. Der linke Teil ist abgebrochen, nur ein rostender Gitterstab erinnert an ihn. "Für Kaiser und Reich". So verrotten vergessene Verlierer.
Montag, 22. Oktober 2007
Die Anekdote
Malaparte, Kaputt. Das stärkste Bild in dem Roman über menschliche Bestien: Die Pferde der Roten Armee, die auf der Flucht vor finnischen Gebirgsjägern in den Lagodasee flüchten und dort plötzlich eingefrorenen werden. Hunderte von Pferdeköpfen ragen den folgenden Winter über aus dem See heraus. Die Szene, ob sie historisch wahr ist oder nicht, erfüllt auf Erden, was Dante vor Jahrhunderten nur im tiefsten Kern der Hölle finden konnte. Die bloße Vorstellung, dass dies im Krieg geschehen sein könnte, spricht für das Bild.
Generell gehört es zu den unentscheidbaren Fragen, ob solche Bilder von billiger Obszönität – so der Korb voll Austern, die sich als „20 Kilogramm Menschenaugen“ herausstellen – oder entwaffnender Direktheit sind. Man fragt stattdessen besser nach dem Wert der Anekdote. Es ist zweifelhaft, was außerhalb der berufsmäßigen Deutung von Geschichte bleibt. Die Anekdote als bezeichnende Vorstellung von einer Sache, einer Person oder einer Zeit wird zweifellos dazugehören. Geschliffene Preziosen.
Samstag, 20. Oktober 2007
Kontraste
Beobachtungen in der Stadt der Armen und ihre Veränderung. Die ersten Anblicke solcher Art waren bedrohlich, zeigten in hässlich alltäglichen Bildern den Teil des Lebens, der Kampf und Verdrängung ist. Damals wurde von der Magengegend her klar, dass banales Scheitern möglich war und dass dies das Leben nicht im Geringsten bekümmern würde. Die Welt, die von Elfenbeintürmen aus so formbar wirkte, härtete in solchen Augenblicken aus – Berliner Härte.
Die Wahrnehmung hat sich seitdem verändert. Der Blick für die Abgeworfenen und Überflüssigen hat sich erhalten. Er ist jedoch zu einem erwartenden Blick geworden, der die vertrauten Statisten aus Gewohnheit registriert. So erklärt sich die Beruhigung, den verwachsenen Alten wiedergesehen zu haben. Damals hatte sein Schicksal aufrichtiges Interesse geweckt: Wer war dieser Mann, der stets kurz vor Schließung auftauchte und allein sein kärglich Mahl hielt? Ein Ingenieur, so hatte es einst am Nachbartisch geheißen, den der Selbstmord des Sohnes aus der Bahn geworfen habe. Heute fällt der Alte wieder auf, aber der Gedanke ist ein anderer: Auch dich gibt es also noch.
Freitag, 19. Oktober 2007
Bahnbeobachtungen
Ein junger Offizier am ehemaligen Kaiserbahnhof. Idee, er gehöre in Wirklichkeit zu einer Spielgruppe und absolviere hier einen Auftritt, wie ihn die Regeln vorschreiben. Warum sonst der Ernst seiner Haltung? Im Zug dann ein kleiner Junge, der noch zu spielen weiß: „Mama, ich will Schaffner oder Archäologe werden. Kann man auch beides sein?“
Samstag, 13. Oktober 2007
Bernstein
Kiel, eine ehemalige Offizierswohnung. Die kleine Abstellkammer war einmal das „Zofenzimmer“. Der Hausherr erzählt es im Plauderton, als ginge es um einen altertümlichen Brauch, der heute völlig abwegig sei. Beim abendlichen Umtrunk mit drei „Elitestudenten“ lässt der Professor dann erkennen, dass ihm die alten Unterscheidungen nicht fremd sind; sie sind feiner und damit auch perfider geworden. Der Kommilitone v. D. parliert gekonnt und stellt allerlei Fragen zu Architektur, Wein und klassischer Bildung, die den Gastgeber sichtlich erfreuen. In solchen Situationen vergeht die Zeit zwischen Echsenstarre und Minenfeld.
Nachtlager im Arbeitszimmer des Emeritierten. Er behauptet, darin noch zu arbeiten. Die nächtliche Wirkung dagegen museal und luftarm. Die Bücherreihen wie Requisiten eines ruhigen Lebens, die zur Kulisse versteinert sind. Dieser Eindruck wird am Morgen verstärkt, wenn gelbes Licht das Zimmer langsam erfüllt und der Staub darin tanzt.
Mittwoch, 10. Oktober 2007
Fiktionen
Fiktive Beurteilung. Notwendige Zutaten:
5/10 Hochmut
4/10 Spiel
9/100 Rhetorik
1/100 Körnchen Wahrheit
Parallellektüre: „Geständnis und Lüge ist das Gleiche. Um gestehen zu können, lügt man. Das was man ist kann man nicht ausdrücken, denn dieses ist man eben; mitteilen kann man nur das was man nicht ist, also die Lüge. Erst im Chor mag eine gewisse Wahrheit liegen“ (Kafka, Zur Frage der Gesetze).
Sonntag, 7. Oktober 2007
Herbst #26
Brandenburger Straße. Sie schwärmen träge durch die Wärme des auskühlenden Jahres. Noch stehen die Türen der Läden und Lokale offen, laden zum kurzen Verweilen ein. Drei Viertel der Straße liegen bereits im Schatten des nahenden Winters. Wo die Sonne scheint, verlieren sie ihre Konturen, verschwimmen zu Flecken in Honiglicht.
Unter den Mücken gehen die Leute ihrem Treiben nach.
Samstag, 6. Oktober 2007
Nebel
Nachtbus, zu früh ausgestiegen. Die Straße liegt im Nebel, nur das Knirschen der Steine unter den Schuhen zu hören, das wabernde Gelb naher Laternen zu sehen. Der Blick zurück wie derjenige nach vorne ergeben das gleiche Bild; es gibt nur das Hier.
Freitag, 5. Oktober 2007
Rot
Zweite Ankunft. Die Gleichgültigkeit und Geschäftigkeit der Stadt ist die alte, nur ein Parameter anders: Erwartet werden. Licht aus dem oberen Stockwerk, eine offene Tür und nächtliche Worte. Die Reise erhält so einen Fluchtpunkt, an dem sie in einen anderen, unerwarteten Zustand übergehen kann – Zufriedenheit.
Ebenso eine Unterweisung in Zufallslehre. Wie in einem Strategiespiel hat ein jeder sein Sichtfeld, das den Nebel des Krieges und anderer Metaphern in einem bestimmten Raum aufhebt. Sinnesschärfe und Erfahrung entscheiden über seine Größe, die aber stets unzulänglich bleibt im Dunkel ungezählter, aufeinanderprallender und einander verfehlender Partikel. Welch wunderliche Wirkung darin ein Paar roter Hausschuhe haben kann.
Mittwoch, 3. Oktober 2007
Retrospektive
Jünger, Strahlungen: „Es gibt ein Sterben, das schlimmer ist als der Tod, und das darin besteht, daß ein geliebter Mensch das Bild, mit dem wir in ihm lebten, langsam in sich abtötet. Wir löschen in unserer Aura in ihm aus. Das kann durch dunkle Strahlung kommen, die wir senden; die Blüten schließen sich langsam von uns ab.“