"Es gibt nur eine Maxime - das ist die, daß man sich mit dem Tode befreunden muß." (Jünger, Strahlungen)

Dienstag, 29. Mai 2007

Zweierlei Maß

Daniel Johnston, Devil Town: „All my friends were vampires / I didn’t know they were vampires / It turns out I was a vampire myself / in the devil town.“ – In Person und Werk ein gutes Beispiel für Selbstreflexion, die an sich und den eigenen Grenzen scheitert. Was ist auch anderes von einem Bewußtsein zu verlangen, das sich selbst erkennt, relativiert und aufhebt? Vielleicht die zeittypische Ironie und Leichtigkeit im Standpunkt.

Die Selbstreflexion als „höheres Bewußtsein“ ist in gewissen Kreisen sakrosankt. Dort gilt das Denken per se als Wert und so bleibt die Frage nach dem „Wozu“ aus. Im Gegenteil regiert ein infamer Wertmaßstab: „Besser ein unglücklicher Sokrates als ein glücklicher Kretin“. Abstrakte Sadisten und konkrete Opportunisten, die sich an dem Fallobst verdorrter Leben delektieren und die Umstände der Ernte idealisieren. Eifern dabei im eigenen Tun den „Kretins“ nach.

Sonntag, 27. Mai 2007

Samstag, 26. Mai 2007

Hohlspiegel

Erneut in N. Die Anziehung und Abstoßung solcher Orte beruht auf ihrer doppelten Eigenschaft als Reibfläche und Hohlspiegel. Die Reibfläche entspringt dem Irrtum, das Leben rein numerisch voll ausschöpfen, „alles mitnehmen“ zu können. Liter, Pfund, Prestigepunkte und Anzahl der Orgasmen heißen hier die Maße. Interessanter der Hohlspiegel, vor allem dann, wenn er von Fremden gehalten wird.

Nach dem Gang durch niederen Wahn können die Chinesen nicht verstehen, wie die britische Nation es zu ihrem heutigen Platz in der Welt gebracht hat. Es ist die Sicht des Arbeitenden unter Hedonisten, auch der Hochmut des Produzenten gegenüber dem Verbraucher. Ein auffälliger Punkt zudem das Ressentiment gegen die allgemeine Freizügigkeit, das oft als Prüderie gewertet wird. Der Sinn für Tradition und Anstand ist noch intakt, damit ein Schutz gegen das Niveau unterschreitende Billigkeit.

Freitag, 25. Mai 2007

Verlorene Posten

Jünger, Siebzig verweht I. Berichtet über seine Reise nach Angola, wo es von deutschen Ostelbiern wimmelt. Nachdem sie 1918 ff. ihren Besitz verloren hatten, versuchten sie ihr Glück in der portugiesischen Kolonie und wurden erfolgreiche Plantagenbesitzer. Atmosphäre des verlorenen Postens.

Warum gibt es zu Themen wie diesem keine Dissertationen? Stattdessen Redundanz unter besonderer Berücksichtigung von... – Jene Arbeiten setzten eben Charaktere voraus, die in Seminarräumen und Vorlesungssälen selten zu finden sind.

Mittwoch, 23. Mai 2007

Gesinnungsethik

Gespräch mit Chinesen. In einer Provinz protestieren Massen für das Ende der restriktiven Geburtenpolitik. Eine konforme, aber gescheite Nationalistin schämt sich für diese Leute, die sie als ungebildete Bauern und verführte Halbkinder bezeichnet. Ohne ihre Quellen zu kennen, erscheinen die Aussagen zweifelhaft: Fünf Staatsdiener seien bereits erschlagen, öffentliche Gebäude stünden in Flammen und die Protestler wollten fünf Kinder und mehr - Übertreibungen als typisches Schmiermittel einer leise klickenden Propagandamaschine.

Stereotype Frage, ob der Staat das Recht haben sollte, in elementarste Lebensbereiche einzugreifen und "schuldig" Gewordene mit Sterilisierung und Abtreibung zu bestrafen. Eine bessere Gegenfrage: Wie regiert man in weiser Voraussicht ein Land von diesen Ausmaßen? Tatsächlich fehlt etwa im Bericht der Washington Post jeglicher Hinweis auf die Wohlfahrt der Gesamtheit. Das Hohelied des Individuums und seiner "unveräußerlichen Rechte" lässt sich leicht singen, wenn der Bauch voll ist. Solche Ermahnungen bleiben reine Gesinnungsethik, wo es auf Verantwortung ankommt und der Sinn für die zoologische Seite des Lebens zwangsläufig ist.

Sonntag, 20. Mai 2007

Sprache

Gespräch mit Chinesen. Der Jugendjargon in China kennt keine eigenen Wörter, sondern bedient sich der formellen Alltagssprache, indem ihr andere Bedeutungen verleiht. Heißt es etwa, ein Test sei „zwei“ gewesen, so bedeutet dies im örtlichen Jargon, er war „verrückt“.

Es verwundert nicht, dass von diesem Standpunkt aus die englische Sprache mit dem allgegenwärtigen, amerikanischen „fuck“ so gering erscheint. Hier ist schon eine Primitivität erreicht, die das Spiel unmöglich macht. So berichtet der Chinese, dass zu den interessantesten Initiationsriten an der Universität das Erlernen der regionalen Jargons gehöre. Die Schwierigkeit und zugleich der Reiz erwüchsen aus dem babylonischen Stimmgewirr: Um etwa das delikate „fuck“ in allen regionalen Codierungen dechiffrieren zu können, bedarf es einer schnellen Auffassungsgabe, eines sauberen Sprachgespürs oder Narrenglücks.

Die Sache erinnert zugleich an die Kraft der Sprache und mahnt, deren "Beherrschung" nicht überzubewerten: „Die Sprache spricht manchmal ohne den Menschen…“

Mittwoch, 16. Mai 2007

Entwaffnend

Gespräch mit Chinesen. Kuriositäten der Einkindpolitik. Heiraten zwei Einzelkinder, so dürfen sie zwei Kinder zeugen. Das erlaubt zusätzliche Zahlenspiele in einem Land, in dem Heiratsallianzen ohnehin im Schwange sind. Im Weiteren die Rechtfertigung für neues Leben. Reiz: Neues Leben bedeutet neues Leid. Reaktion: „Nein! Ich werde mit meinen Kindern nach Disneyland fahren.“

***

Kafka, Briefe an FB. Der erste Eindruck täuscht nicht: Seine Briefe lesen sich mehr als Tagebuch denn Korrespondenz. Warum es gerade diese Lebenslustige und -bejahende war? Vermutlich sein Gespür für eigene Mängel. Interessanter: Warum hat sie sich auf ihn eingelassen? Schon in seinem ersten Brief verliert er sich im Detail, für das sie kaum Sinn gehabt haben dürfte. Andrerseits sein Humor, der erst in der allwissenden Rückschau bitter wird. Ende des ersten Briefes:

„[...] gegen mich als Korrepondenten – und darauf käme es ja vorläufig nur an – dürfte nichts Entscheidendes von vorneherein einzuwenden sein und Sie könnten es wohl mit mir versuchen.“

Sonntag, 13. Mai 2007

Gedankenexperiment

Wenn man nur einen Menschen retten könnte – wer wäre das? Der Reiz dieser Frage liegt weniger in ihrer Antwort als in der Grausamkeit, die sie gegen alle anderen bedeutet. Darin indes ist sie ein sicheres Maß für das Verhältnis zu den Mitmenschen.

Donnerstag, 10. Mai 2007

Aus-Fahrt

Nachts an einem Motel. Die Industriegegend hell erleuchtet und menschenleer. Nur das Dröhnen des unablässigen Verkehrs. Vogelgezwitscher begleitet es, macht die Nacht nur noch leerer. Es riecht nach Nässe und Schnecken.


Einige Schritte vom Motel entfernt ein Schnellrestaurant. Trotz bunter Beleuchtung kein Mensch darin. Erst nach einiger Zeit sind zwei Gestalten zu sehen. Sie unterhalten sich fast bewegungslos. Wartende.


Das Motel ist voll automatisiert. Auch hier kein Mensch auf den Gängen, keine Geräusche bis auf den dumpfen Verkehrslärm. Das Zimmer riecht nach dem Nichts der Klimaanlage. Der Blick aus dem Fenster direkt auf den Verkehrsstrom. Bei ausgeschalteter Zimmerbeleuchtung tanzt Scheinwerferlicht auf der Wand.

In einer Ecke ein Fernseher. Stichprobe um 2 Uhr: Nachrichten, Dauerwerbesendungen, Kloakenhumor, Hydraulikpressen, primitivste Fickaufforderungen. Angeekelt aus dem Zimmer.



Begegnungen mit anderen Motelgästen. Übernächtigte, stumme Gesichter. Ein Radfahrer, der Richtung Autobahn gleitet. Seine Flaschen klirren nach. An der Bahnhaltestelle:

Mo-Fr

4 22 52

5 09 24 39 54

6 06 16 26 36 46 56

7 06 16 26 36 46 56

8 06 16 26 36 46 56

9 06 16 26 36 46 56

10 06 16 26 36 46 56

11 06 16 26 36 46 56

12 06 16 26 36 46 56

13 06 16 26 36 46 56

14 06 16 26 36 46 56

15 06 16 26 36 46 56

16 06 16 26 36 46 56

17 06 16 26 36 46 56

18 06 16 26 39 54

19 09 24 39 54

20 09 24 39 54

21 09 24 39 54

22 09 24 39 52

23 22 52

00 22

01 21

02 21

03 21

Leere Bahnen befahren diesen Ort, der wie Ende riecht, klingt, scheint. Dazu reich an Motiven: Reisen, Leere, Anonymität, ununterbrochene Bewegung.

Mittwoch, 9. Mai 2007

Reprise II

Zwei Leichenzüge an diesem Tage. Wieder der Eindruck des Emblematischen.

Der Leichenwagen fährt deutlich unterhalb der zugelassenen Höchstgeschwindigkeit, so dass sich hinter ihm der Verkehr staut. Während den Autofahrern unmittelbar hinter dem Leichenzug der Grund für die Verzögerung bewusst ist, werden diejenigen außerhalb der Sichtweite ungeduldig und schlingern auf der Fahrbahn, als könnten sie dadurch einen anderen Weg nehmen. Gut, wenn man an ihrer Stelle weiß, wohin diese Straße führt.

In einem Wagen nur ältere Damen. Warum wirkt der weibliche Schmerz stärker? Sozialisierung, Stereotype, Kitsch – vielleicht. Besser: Sie haben Leben gegeben, daher ihre tiefere, empfänglichere Beziehung zu diesem.

Die Blässe ihrer Gesichter geht über die Situation hinaus und deutet auf die schlimmste Form des Alterns hin – das Verblassen.

Alte, gerade diese Verblichenen, auf Beerdigungen zu sehen, entbehrt nicht einer gewissen Situationskomik.

Die Bewegung auf der Straße, die Starre im Wagen, das stört das Programm. Ehe es zum Betriebsschaden kommt: „Weiter geht’s.“

***

Kafka, Briefe an FB. Widerstreben bei der Bettlektüre: Das hätte niemals außerhalb der Welt jener Beiden erklingen dürfen. Doch siegt die „höhere Neugier“, auch die irrige Annahme, man lerne fürs Leben. Auffallend ist die Häufigkeit, mit der er ihr schrieb. Der flüchtige Blick auf die Datierungen deutet mehr auf einen Monolog denn Korrespondenz hin. Schon die Statistik verheißt also nichts Gutes für die Beiden.

Freitag, 4. Mai 2007

Reprise

„Rückkehr“. Zutreffender wäre Wiederaufnahme. Etwas kehrt nicht zurück, sondern wird aus Ideenlosigkeit und Fehlsichtigkeit wiederaufgenommen. Der Wiederaufnahme geht die Entscheidung, vielleicht Versagen voraus.

Andrerseits erlaubt Wiederaufnahme die Variation. Wiederholte Beschäftigung nach den Regeln des geistigen Exerzitums, der Meditation. Somit wertvoll in einer Zeit, die vielfach an Überangebot leidet. Unvorstellbar etwa, sich jahrein, jahraus mit einem Motiv zu beschäftigen: eine Idee, eine Tat oder ein Mensch. Stattdessen Ausfiltern, Verwerten, Nutzenmaximierung (häufiger Fehler: „maximaler Gewinn bei minimalen Kosten“).

Donnerstag, 3. Mai 2007

Dienstag, 1. Mai 2007

Glashaus

Kritische Intelligenz. Häufig schöpft sie aus der Gewohnheit - man muss kein Haus bauen können, um zu wissen, wie es zum Einsturz gebracht wird. So wird bereits zu Beginn Hohlköpfen eingetrichtert, wo die Angriffspunkte liegen.

Diejenigen, die sich im Laufe der Jahre mit irgendeinem Wissen füllen, gewinnen ein anderes Verhältnis zur Kritik: mis-en-scène. Man hört sich gern schwätzen und noch viel lieber liest man es Schwarz auf Weiß: cogito ergo magnificum sum. Fremdes Schaffen ist insoweit kritikwürdig, als es die Bühne für eigene Gedanken bereitet. Gern greift man zur Lupe – irgendein Fliegendreck wird sich schon finden.

Die Kritik nützt schließlich allein dem Kritiker, zumindest insoweit er ein Reisender ist. Man sieht das Mögliche und, wenn man geübt ist, gelegentlich das Unmögliche. Darin ist die Kritik dem Leben ähnlich, hat aber den Vorzug der Umkehrung: Man ist Schleifender, nicht Geschliffener.