"Es gibt nur eine Maxime - das ist die, daß man sich mit dem Tode befreunden muß." (Jünger, Strahlungen)

Samstag, 30. Juni 2007

Letzte Worte

Nachts, Durchsicht von Exzerpten. Der Diarist hat sie 1941 angefertigt. Stammen aus Briefen französischer Männer, die willkürlich interniert und im Rahmen von „Vergeltungsmaßnahmen“ hingerichtet wurden. Einige halten auf, unterbrechen das Gleichmaß der Arbeit und ziehen schließlich die Gedanken zu sich herab.

„R. Laforge

Ich sterbe ohne Religion, mit ruhigem Herzen und dennoch ein wenig bedrückt. Ein Lebewohl an Paul, Georges, Jeanne. Alle schreiben wir unsere Abschiedsgrüße und behelfen uns, wie es möglich ist. Die Gendarmen, die uns bewachen sind noch bleicher als wir.“

Auszug: „Sei mutig, meine Liebe. Dies ist ohne Zweifel das letzte Mal, daß ich Dir schreibe. Heute werde ich gelebt haben.“

„Dies ist mein letzter Brief. In einigen Minuten wird ein endgültiger Strich unter mein Leben gesetzt werden. Sei tapfer. Denke an die Kinder, und wenn Du auf Deinem Wege einen Kameraden findest, der Deiner würdig ist, so zögere nicht. Liebe, beginne Dein Leben von neuem, Du bist noch jung.“

Der Brief, nach dem die Lektüre enden muss, ist der sachlichste:

„Liebe Nachbarin, ich soll heute erschossen werden. Ich sage Ihnen Lebewohl. Bekümmern Sie sich um meine Frau. Ich danke Ihnen für alles, was sie für mich getan haben.“ – Das Beiläufige des Abschieds ist unerträglich rational und dadurch auch von einer Schärfe, die sich zum Vorbilde eignet. Vielleicht ist das einzig Tröstende solcher Begebenheiten, dass sie das Beste im Menschen hervortzutreiben vermögen.

Montag, 25. Juni 2007

Abendmahl

Eingeladen zu einem der letzten Abendmahle, wie sie sich zum Ausklang des Jahres hin mehren. Solche Veranstaltungen gleichen einem intensiven Arbeitsprozess: Während es hässliches, aber hervorragend zubereitetes Getier möglichst elegant zu zerlegen gilt, darf die Tischdiplomatie nicht vernachlässigt werden. Vor allem dann nicht, wenn die Einladung mit einem klar erkennbaren Hintersinn erfolgt ist: Zünglein an der Waage sein. Damit ist auch das Mechanische des Vorganges vorgegeben. Die Gesichter regelmäßig auslesen, Worte zählen, die An- und Abstoßungskräfte zwischen den Tafelgästen bestimmen und dazwischen die Weinzufuhr regulieren. Schwierig wird es, wenn das Getriebe ins Stocken gerät, weil es zu staubig ist im Niemandsland zwischen den Kulturen. In diesem Fall ist Humor das Schmiermittel der Wahl. Die simpelste ist zugleich die wirksamste Form: Sich zu dem Narren machen, den jeder größere Tisch braucht. Das Tischgespräch ist dann vollständig zur Bühne geworden und der Abend verspricht zu gelingen. Die Belohnung: Allseitige Zufriedenheit und Beifall für den Komödianten.

Post festum: Warum Clowns traurig sind und die Hungrigen lieber allein essen.

Freitag, 22. Juni 2007

Randnotizen

Vor dem Fenster spielen die Inder wieder Cricket. Schönes Beispiel für die Folgen jahrhundetelanger Erziehung.

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Gespräch mit Chinesen. X. erzählt von Tibet und der Gefahr, die dort mit Busreisen verbunden ist. Die Gebirgsstrassen seien oft sehr nahe am Abgrund und es komme regelmäßig zu schweren Unfällen. Schon ihr Bau habe einen hohen Blutzoll gefordert: „Man sagt: Auf jeden Kilometer zehn Leben.“ Sie spricht das mit größter, aber noch nicht prätentiöser Beiläufigkeit aus. – Ein erstaunliches Maß – und das in Friedenszeiten, gleichsam als Bestandteil des Alltags. Gelangweilte Wohlstandskinder können ruhig glauben, dass Politik – „Demokratie“ und „Menschenrechte“ – China zu einem „besseren“, das heißt: einem angeglichenen Ort machen werden. Sie unterschätzen dabei die Menschen und ihr Verhältnis zum Leben.

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Leben in D. – ein endloser Beach Boys song. Allerdings ist der Sprößling nicht mehr auf Papas T-Bird angewiesen, sondern mietet sich eine Stretchlimo. Bisweilen mag man sich fragen, was aus dem „understatement“ geworden ist. Vermutlich zusammen mit der Würde versoffen.

Dienstag, 19. Juni 2007

Lebensfäden

Unheimlich, wie sich Lebensfäden verspinnen. Ein langes Lebewohl, eine andere Zimmernummer und ein weltkundiger Mentor ermöglichen eine Perspektive, die noch vor wenigen Monaten nichts als Phantasterei gewesen wäre: Nihil est in intellectu quod non prius fuerit in sensu. Dabei sind es sind nur wenige Lebensfäden, die schon jetzt sichtbar werden. Wie viele aber bleiben dem Auge verborgen?

Das mag eine weitere Altersprämie sein: Unter dem Staub der Jahre das Gewirr der Lebensfäden entwirren. Zur Bitterkeit des Alters gehört es dann, dass alle Erkenntnis zu spät kommt. Indes ist die Aussicht nicht schlecht, das wichtigste Rätsel kurz vor Abgabezeit zu lösen: Wozu war man da? Hier ist höhere Neugier das Unterpfand eines langen Lebens.

Dienstag, 12. Juni 2007

MasseMensch

Aus dem Land der Mitte. Dort ist der Held derjenige, der sich für das Wohl der Gesamtheit opfert. Die klassischen Typen, die wohl in jedem Kriege Konjunktur haben: Soldaten, die in den sicheren Tod gingen, damit die Mission / die Kameraden / die Frauen / Kinder / usw. gerettet würden. Beispiel aus dem heutigen Alltag: Ein Mann fällt in einen Fluss und droht zu ertrinken. Nacheinander springen drei weitere in den reißenden Strom. Alle vier ertrinken. In den Nachrichten werden die drei unvorsichtigen Helfer als Helden gefeiert.

Solche Geschichten erhöhen den Drang, das Land und seine gewaltigen Ausmaße aus der Nähe zu studieren. Doch gilt es sich davor zu hüten, lediglich den Kontrast zu suchen, d.h. als Reisender aus der Alten Welt zu kommen, überhaupt Bildungsreisender zu sein. In solche Länder reist man nicht wegen ihrer Geschichte oder Kultur, sondern um den Menschen als Gattungswesen zu begreifen.

Montag, 11. Juni 2007

gnädig grausam

Eine Mücke umfliegt die Enge der Zelle. Ein unbedachter Schlag und sie verschwindet. Stunden später die Entdeckung, dass sie noch lebt. In einer Ecke liegt sie gekrümmt da, zucken ihre Beinchen unregelmäßig. Die feinen Flügel sind zerrissen, bewegen sich vergeblich. Das menschliche Auge reicht nicht für weitere Details, genügt aber, um den strahlenden Schmerz zu erkennen. Mit einem schnellen Fingerdruck entweicht das Restleben. Unachtsamkeit als grausamste Ursache des Schmerzes.

Da sie Teil der Natur ist, erregt sie wenig Anstoß, ist vielmehr überall dort zu finden, wo das Leben Kampf ist. Das umfasst größere Teile des menschlichen Bestandes als denen lieb sein kann, die gelehrt von „naturalistischem Fehlschluss“ reden. Die Einzelnen bewegen sich, streben, soweit sie nicht von der Substanz zehren, „nach oben“. Auch ohne den Willen zum Kampf findet so Verdrängung statt, landen die Verlierer, die Schwächeren und Pechvögel im Abseits. Ein Blick hinter die Lenkräder endloser Transporter, auf blank geputzte Flure, ausgebesserte Kanalanlagen deutet an, welcher Natur dieses Abseits ist und welcher Verschleiß dort stattfindet. Die menschlichen Späne bleiben unbeachtet, auch ihre Leistung, die das Leben an der Oberfläche erst möglich macht.

Dort herrschen zwei extreme Meinungen. Der Zyniker gibt unumwunden zu, dass er lediglich Ruhe vor den Depravierten haben will, um sich ungestört an seinen Gewinnen delektieren zu können. Dafür ist er bereit große Geld-, Sach- und Propagandamittel aufzubringen. Der Humanist dagegen leugnet den Kampf, spricht stattdessen von Demokratie, Fortschritt und Kooperation. Und während es ihn unter seinesgleichen verschlägt, wo man sich an Kunst, Kultur und den feineren Dingen des Lebens zu erfreuen weiß, schlägt man sich darunter durch.

Sonntag, 10. Juni 2007

grausam gnädig

Botanic Garden. Ein Kaninchen. Beim Näherkommen läuft es nicht davon. Verwunderung, bis der entstellte, wie verweste Kopf sichtbar wird. Die Augen herausgekratzt, an einigen Stellen zerschmolzenes Milchglas. Die Augenhöhlen sind mit Flechten überwuchert; kein Eiter. Es muss sich um eine alte Wunde handeln, vielleicht von einem Raubtier, vielleicht von einem Artgenossen geschlagen. „Lange machst du es nicht mehr.“ Das Kaninchen frisst weiter an den Mohnblumen und lässt sich von der milden Abendsonne bescheinen. Seine Sicherheit gewinnt es aus dem Vorzug, die Welt nicht mehr sehen zu müssen. Die Natur ist ebenso grausam wie gnädig.

Samstag, 9. Juni 2007

Taxonomie

Ein Mittel wider die Monotonie des Transits ist das Studium der Blicke. Hier werden Urteile in Serie und Sekundenschnelle gefällt. Faszinierend auch das Detail: Mit welcher natürlichen Arroganz Schönheit Schwester des Zynismus ist. Eine einzige Sekunde reicht für das Urteil, das sogleich frostig exekutiert wird.

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Christopher Marlowe – „died in a pub brawl“. Das wäre ein zeitloses Epitaph gewesen, passend für den Schatten des großen Shakespeare. Es verletzt leider nicht die Totenruhe, wenn findige Staubwächter die „Wahrheit“ suchen und „Mythen dekonstruieren“. So wird aus einem guten Tod ein gewöhnlicher und verächtlicher gemacht: Händel am Hofe, Streit um Geld, Moritat für den Pöbel. Solch belehrende Bücher legt man beiseite wie man die Schulmeister vergisst, sobald man Jahre später ihre Motive verstanden hat.

Freitag, 8. Juni 2007

Inflation

Immer mehr Internetdienste helfen dabei, „Freundschaften“ zu pflegen, genauer: zu administrieren. Das führt zu einer Verwirrung des Begriffs und es fragt sich, wann mit dem Zeichen auch das Bezeichnete verfällt. Besser dagegen „Netzwerk“ als Wort, das das rein Technische und Instrumentelle betont. Hat indes einen negativen Beiklang; die Intuition bleibt untrüglich wider die Moden der Zeit.

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Jünger, Strahlungen. „Wohin wir auch desertieren, wir führen die angeborene Montur mit uns; auch im Selbstmord entrinnen wir uns nicht.“ – Darin verrät sich nicht nur sprachlich der Soldat. Kennt die Uniform und nichts außerdem. Dagegen hat das Repertoire an möglichen Monturen zugenommen, ebenso die Freiheit, darauf zugreifen zu können. Diese rein zahlenmäßige Zunahme sagt natürlich nichts über ihre Qualität aus und in diesem Punkt mag der alte Soldat das letzte Wort behalten.

Mittwoch, 6. Juni 2007

Newspeak

Aus einem Rundschreiben:

„Dear Everyone,

Unfortunately a man has been seen in XXXXX Road area indecently exposing himself. If he is seen please report this to the police and the college.”

Unwillkürlicher Zweifel, was dieser Mann wirklich verbrochen habe. Sicheres Indiz für den kritischen Punkt, den eine „bereinigte“ Sprache erreichen kann: Man zweifelt erst an einzelnen Worten, dann an dem allgemeinen Wahrheitsgehalt. – Wer heute eine neue LTI schreibt, braucht einen feinen Sinn für Aussparungen.

Montag, 4. Juni 2007

Gottvertrauen

Gespräch über Nachwuchs: Kindern müssten alle möglichen Vorteile zugänglich gemacht werden, die sich aus der Position der Eltern ergäben. Geblüt ist stärker als Gesellschaft. Wo aber enden die „möglichen Vorteile“? Dürfen, ja müssen die Gene optimiert werden, wo dies in absehbarer Zeit möglich wird? Die überraschende Antwort: „Das erledigt schon die Partnerwahl.“ - Gottvertrauen eines Biochemikers.

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In Polen erwacht ein Mann nach 19 Jahren aus dem Koma. Starkes Medieninteresse, insoweit es sich um einen jener seltenen Fälle der Zeitreise handelt. Politischer Systemwechsel, Technik in Siebenmeilenstiefeln, 11 Enkelkinder. Das eigentlich Erstaunliche bleibt Randnotiz oder verschwiegen. Seine Frau erhielt ihn am Leben wider alle Prognosen und Lasten der Aufgabe. Ein Foto erfasst diese Konstellation: Er sitzt verschreckt wie ein Neugeborenes im Hintergrund, sie mit dem würdigen Lächeln des unbedingten Glücks im Vordergrund. – Ein außerordentlicher Willen zum Opfer. Vielleicht „wahre Liebe“.

Freitag, 1. Juni 2007

Interpretationen

In der Kathedrale erzählt ein alter Mann aus seinem Leben. Sein Blick geht dabei immer wieder in das Leere, ganz so als sähe er, wovon er spricht: Mütter mit Kindern, Verwundete, die tödlichen Punkte am Himmel. Sie erscheinen ihm alle gleich, Statisten des Schicksals, die unter schwerem Blick zu einem Bild zerfließen. – Auch ein gutes Beispiel für Sprachschattierungen: Man würde hier nicht von „remembering“, sondern „recalling“ sprechen.


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Die Zahl 11. In China eine besondere Zahl, vor allem bei Blumen. Homophon mit einem bekannten Sprichwort. In etwa: „Ein ganzes Leben | Für Dich.“ Erstaunliche Bandbreite von Interpretationen zweier so simpler Ziffern.