"Es gibt nur eine Maxime - das ist die, daß man sich mit dem Tode befreunden muß." (Jünger, Strahlungen)

Montag, 26. November 2007

Widerstand und Aerodynamik

Erinnerungen an die Jugend oder die Orte, wo Pfade beginnen. Die Überwindung widriger Umstände als ein Akt des Widerstandes oder natürlicher Aerodynamik. Widerstand dabei Verdrängung und Kampf gegen die Schwere – der Geburt, der Umwelt, gesunkener Hoffnungen. Dagegen Aerodynamik, wo diese Barrieren fehlen, aber das Fliegen infolge von Missgunst ebenso schwer sein kann. Die Pfade kreuzen sich in der Luft.

Im Rückblick erscheinen die Schläge und Rückschläge als notwendige Bedingung des Flugs. Sie deuten auf eine lange und gründliche Arbeit an der Substanz hin. Das setzt natürlich eine entsprechende Materialhärte voraus. Apologien für eine verkommene Welt, aber auch ein lebendiges Trotzdem von letztlich zweifelhaftem Wert.

Schließlich die Frage nach den Spuren der Überwindung. Obwohl Abnutzung zu erwarten und zu entschuldigen wäre, ist sie nicht zwangsläufig. Ausstrahlung großer Lebensbejahung ist auch eine Möglichkeit. Vielleicht ist sie sogar Ideal: Trotz allem nicht nur souverän, sondern lebensgewandt und wie unter ihnen zu sein – das ist der Pfad, der in einen Triumphzug übergeht.

Freitag, 23. November 2007

Gespenster

Staatsbibliothek. Ein alter Mann geht die Handbibliothek ab und grummelt im Rauschen arbeitenden Papiers. Vernachlässigte Kleidung, der Gang gebeugt und mit unruhigem Blick. Einige Leser heben vogelartig den Kopf und senken ihn sogleich wieder. Der Mann schlurft in einen anderen Bereich, murmelt etwas Unverständliches. An einem Richtungsschild bleibt er stehen und betrachtet es lange und eindringlich, als handle es sich dabei um das Buch, das er sucht, aber hier nie finden wird.

Ein Gespenst. Zwischen den Büchern und den Selbstbeschäftigten ist es unsichtbar. Erst wenn sich die Nachbarn eines Tages über den Gestank aus seiner Wohnung ärgern werden, wird das Gespenst gesehen werden. Es wird dann nach dem sozialen auch den physischen Tod gestorben sein. Vielleicht wird man fragen, wer das Gespenst zu Lebzeiten gewesen ist. Dass es in einer Bibliothek sein Unwesen treibt, deutet auf einen „Gelehrten“ hin. Einer, der sein Leben der Athene verschrieben hat, vielleicht durch Studien zu dem „frühneuzeitlichen Fideikommiss unter besonderer Berücksichtigung der ostelbischen Gebiete“, den „absurd-grotesk Grotesken & Absurditäten“ oder dem „Verständlichen bei Fichte“. Hat dabei nicht gemerkt, wie Körper und Geist während der Kärrnerarbeit für die kalte Göttin verfielen, ehe es zu spät wurde um zu reagieren. Kollegen, Bücher und andere Fossilien werden das Gespenst vermissen.

Montag, 19. November 2007

(Fehl) Funktion

„Ein alter Notar hat zwei Schreiber und einen Lehrling. Der eine Schreiber hat Verdauungsprobleme, der andere ist ein Säufer und der Lehrling sammelt Nüsse. Der Notar stellt einen dritten Schreiber ein. Bartleby kopiert still und fleißig Verträge, immerzu Verträge. Andere Aufgaben lehnt er ab: „Ich würde vorziehen, es nicht zu tun.“ Der Notar bleibt machtlos. Als Bartleby bald überhaupt nicht mehr arbeitet und schweigend vor sich hinträumt, will der Notar ihn feuern. Es gelingt nicht, denn der Schreiber lebt längst in dem Büro. Bestechungsversuche lehnt er ab. Der Notar zieht aus, Bartleby bleibt. Auch der Nachmieter will den ungebetenen Gast nicht haben und entledigt sich seiner. Bartleby kommt ins Gefängnis, wo er trotz Beistand des Notars schließlich eingeht.

[…]

Indes ist die Überschneidung mit Kafka größer als es die Ähnlichkeiten in Darstellung und Denken des Absurden vermuten lassen, mehr also als „kafkaesk“ meinen kann. Im „Bartleby“ hat Melville früh zu fassen versucht, was Kafka und seinen Nachfolgern längst ihre natürliche Lebensumgebung geworden war: die Moderne und ihre rationale Arbeitsteilung oder das, was Max Weber später als „stahlhartes Gehäuse“ bezeichnete.

Ein „stahlhartes Gehäuse“ ist schon das Büro, in das Bartleby einem Gefangenen gleich einzieht und in dem ihm nur die Wahl zwischen der monotonen Arbeit und dem Blick in den trostlosen Hof bleibt. Als MenschMaschine erfüllt er seine Funktion, ist so stark spezialisiert, dass er jede andere Tätigkeit, und sei es nur ein einfacher Botengang, ablehnt. Selbst die Fehlfunktion, die er erleidet, hindert ihn nicht daran, seinen Platz zu räumen. Es gibt keinen anderen für ihn. Im einzigen längeren Gespräch mit dem Notar behauptet der Schreiber jeden Beruf annehmen zu können, nicht anspruchsvoll zu sein – und lehnt doch jede andere Funktion ab. Selbst eine Schreiberstelle in einer anderen Zelle interessiert ihn nicht: „Nein, ich würde vorziehen, mich nicht zu verändern.“

Melville kannte das „stahlharte Gehäuse“ gut. Als Sohn eines heruntergekommenen Kaufmanns musste er sich nach dessen Tod mit allerlei Jobs über Wasser halten, darunter als Schreiber in einer Bank. Seine Erzählung heißt mit vollem Titel „Bartleby, der Schreiber: eine Geschichte aus der Wall Street“. Aber anders als Bartleby und anders als Kafka mit seinen Fehlfunktionen ist Melville nicht eingegangen, sondern ausgebrochen: zu den Meeren, zu Moby Dick.“

Freitag, 16. November 2007

Stoiker in der Praxis

"There have been several reports in the media about my personal wealth. Frankly I'm amused. It matters little to me whether my personal fortunes are measured in billions or millions." (Mukesh Ambani, Tycoon & vielleicht zweitreichster Mann Indiens)

Mittwoch, 14. November 2007

one thousand times

"We are born to die / one thousand times." Ein mögliches Leben stirbt. Die Hoffnungen, Erwartungen und der Wille zu dieser Möglichkeit sind mit einem Male verloren. Schon fällt es schwer, die alten Ideen noch einmal zu denken. Aber das war ja nur eine von so vielen Möglichkeiten, einer von so vielen Toden.

Eine Frage: Wann das Zählen wohl ermüdet und endet?

Ein Trost: Auch die abenteuerlichsten Viten fassen nicht mehr als einige Dutzend möglicher Leben.

Samstag, 10. November 2007

Geraubte Gewinne

Reisen im Kopf, Träume, zusammen durchwachte Stunden – hier wird Luxus mit der Zeit getrieben. Aber auch Raub an der Gesellschaft betrieben? Ein Tag, der bewusst die übliche Zeiteinteilung sprengt und jede vergehende Minute um des Verlebens willen schätzt, erscheint zunächst so. Der Gläubige weiß danach, der Eiferer schon unterdessen, dass er sich gegen die Götter der Vernunft erhoben hat – das schlechte Gewissen pocht. Rechnungen gehen nicht mehr auf, Löhne langweilen und irgendwann fährt der Zug ab. Und doch ist da eine andere Seite, die doppelte Buchführung. Sie lässt ahnen, welches innere Kapital in solchen Sonnenstunden des Lebens angehäuft wird. Das wird auch noch in den Großen Depressionen eine lebensspendende Dividende abwerfen.

Donnerstag, 8. November 2007

Verdauung der Noia

Zwei Stunden am späten Vormittag, Höchststand der Noia. Ein Rentner, der allein in einer Bäckerei steht, Kaffee trinkt und sich an den gelegentlichen Kunden und den Passanten draußen wärmt. Ein anderer steht vor dem Eingang des Kaufhauses gegenüber und spielt erbarmungswürdig schlecht, ohne auch nur einen Zuhörer, Mundharmonika. Sein Spiel gerät unter die laut quietschenden Räder einer Straßenbahn. Darin zwei frühere Fabrikarbeiterinnen, eine mit blond verfärbtem Haar. Die beiden Frauen fahren zwischen Ämtern, Supermärkten und ihren Wohnsilos in Richtung Vergessen. Der Trinker an einer Haltestelle ist schon weiter und zieht seine Runden nur noch zwischen den Mülltonnen. Die Frauen tuscheln, als er an der Bahn vorbeiklimpert. An der Endhaltestelle ein kleines Rudel um einen Hund herum. Kurzgeschorene Schädel, Flecktarn, Bier und schwere Stiefel. Sie ärgern das Tier, das unentwegt knurrt, gelegentlich zur allgemeinen Erheiterung aufbellt. Eindruck, dass sie nur wegen ihrer Stiefel noch aufrecht stehen.

Von diesen Aus-Fahrten stets mit düsterer Ahnung zurück. Wie sehr die Ameisen doch die Ordnung und ihre Aufgabe darin brauchen. Im Idealfall gelingt eine tolerierte, ja vielleicht honorierte Ersatzordnung. Häufiger scheint dagegen der Sieg der Noia mit ihrer so grausam langsamen Verdauung.

Dienstag, 6. November 2007

Detailverliebt

Malaparte, Die Haut. Beschreibt oder erdichtet das Verschwinden seines Hundes Phöbus, der ihm das liebste Wesen auf Erden ist („Ein Hund wie ich“). Sucht ihn auf den Straßen, in Tierheimen und bei Tierhändlern, endlich in einem Universitätsklinikum. Dort verkaufen Hundediebe ihre Beute, die man der Vivisektion unterzieht. M. wird von einem Arzt durch das Labor geführt und sieht die stumm leidenden Hunde, denen man Hirn, Herz oder Lunge freigelegt hat. Auch sein Hund ist darunter. Während der Arzt die Todesspritze vorbereitet, wundert sich M. über Phöbus' Schweigen. Der Arzt erläutert ihm, dass man den Hunden vor dem Eingriff die Stimmbänder durchschneide.

Mit diesem Detail endet die Episode. Es kommt also nicht auf Quantität und Qualität des beobachteten oder erdichteten Leids an, sondern den feinen Stich, der trifft.

Sonntag, 4. November 2007

Song for Bob

The Assassination of Jesse James by the Coward Robert Ford. Ein Film, der erst Tage später vollständig durchgedrungen ist, wie schwere Winterkleidung, die irgendwann vom schmelzenden Schnee durchgesogen ist. Er handelt vom Sterben, zufällig dem eines Revolverhelden und seines größten Bewunderers. Wie William Blake in Dead Man zieht Jesse James durch unaufhörliche Weiten ehe er den gesuchten Tod findet; eine schmerzlich langsame Abfolge lakonischer Totenbilder. Auch sein Begleiter Robert Ford stirbt mit ihm wie Nobody mit Blake gestorben ist: Nachdem sie ihre Aufgabe erfüllt haben, dürfen sie gehen.


In den letzten Minuten des Filmes wird der erste Punkt durchnässt und kalte Tropfen rinnen den Rücken herunter. Ford darf darin noch einige Jahre leben, ist aber schon nicht mehr da; der Zeitraffer lässt nicht nur die Jahre schwinden. – Ein Film, bei dem der Saal weiter verdunkelt und das bunte Tonlicht bedeutende Figuren in die Finsternis zeichnet.