„Ein alter Notar hat zwei Schreiber und einen Lehrling. Der eine Schreiber hat Verdauungsprobleme, der andere ist ein Säufer und der Lehrling sammelt Nüsse. Der Notar stellt einen dritten Schreiber ein. Bartleby kopiert still und fleißig Verträge, immerzu Verträge. Andere Aufgaben lehnt er ab: „Ich würde vorziehen, es nicht zu tun.“ Der Notar bleibt machtlos. Als Bartleby bald überhaupt nicht mehr arbeitet und schweigend vor sich hinträumt, will der Notar ihn feuern. Es gelingt nicht, denn der Schreiber lebt längst in dem Büro. Bestechungsversuche lehnt er ab. Der Notar zieht aus, Bartleby bleibt. Auch der Nachmieter will den ungebetenen Gast nicht haben und entledigt sich seiner. Bartleby kommt ins Gefängnis, wo er trotz Beistand des Notars schließlich eingeht.
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Indes ist die Überschneidung mit Kafka größer als es die Ähnlichkeiten in Darstellung und Denken des Absurden vermuten lassen, mehr also als „kafkaesk“ meinen kann. Im „Bartleby“ hat Melville früh zu fassen versucht, was Kafka und seinen Nachfolgern längst ihre natürliche Lebensumgebung geworden war: die Moderne und ihre rationale Arbeitsteilung oder das, was Max Weber später als „stahlhartes Gehäuse“ bezeichnete.
Ein „stahlhartes Gehäuse“ ist schon das Büro, in das Bartleby einem Gefangenen gleich einzieht und in dem ihm nur die Wahl zwischen der monotonen Arbeit und dem Blick in den trostlosen Hof bleibt. Als MenschMaschine erfüllt er seine Funktion, ist so stark spezialisiert, dass er jede andere Tätigkeit, und sei es nur ein einfacher Botengang, ablehnt. Selbst die Fehlfunktion, die er erleidet, hindert ihn nicht daran, seinen Platz zu räumen. Es gibt keinen anderen für ihn. Im einzigen längeren Gespräch mit dem Notar behauptet der Schreiber jeden Beruf annehmen zu können, nicht anspruchsvoll zu sein – und lehnt doch jede andere Funktion ab. Selbst eine Schreiberstelle in einer anderen Zelle interessiert ihn nicht: „Nein, ich würde vorziehen, mich nicht zu verändern.“
Melville kannte das „stahlharte Gehäuse“ gut. Als Sohn eines heruntergekommenen Kaufmanns musste er sich nach dessen Tod mit allerlei Jobs über Wasser halten, darunter als Schreiber in einer Bank. Seine Erzählung heißt mit vollem Titel „Bartleby, der Schreiber: eine Geschichte aus der Wall Street“. Aber anders als Bartleby und anders als Kafka mit seinen Fehlfunktionen ist Melville nicht eingegangen, sondern ausgebrochen: zu den Meeren, zu Moby Dick.“