"Es gibt nur eine Maxime - das ist die, daß man sich mit dem Tode befreunden muß." (Jünger, Strahlungen)

Freitag, 16. März 2007

Metropolis (IX)

Zum Frühstück zwei Friedhöfe.

Nunhead. Am Westeingang einige neue Gräber, anschließend starke Verwilderung des historischen Teils. Ein Pfad zweigt vom Hauptweg ab und führt an umrankten Grabsteinen in das Dickicht hinein. Der Friedhof verschwindet unter starkem Gestrüpp und nach etwa 100 Metern endet der Pfad plötzlich. Nur Krähen und Dornen.

Wieder auf dem Hauptweg ein möglicher Grund dafür. Der Friedhofs- wärter, ein alter, hagerer Mann, hackt am Wegesrand auf Ranken ein. Absurde Vorstellung, er täte dies den ganzen Tag: Breschen ins Nichts schlagen.










Die anglikanische Kapelle, das Prunkstück des Friedhofs, ist vor etwa 30 Jahren ausgebrannt, macht aber von außen noch immer einen starken Eindruck. Auch hier die Krähen, denen dieser Ort offenbar behagt.


Zurück über die Rye Lane. Die Läden afrikanschen und karibischen Charakters. Sie wirken in ihrer Farbenpracht und Fülle wie eine Ansammlung von Marktbuden. Selbst die bekannten Geschäfte und Banken dazwischen verlieren an Massivität. Aggressive Gerüche: Kochendes Fleisch, verrottendes Gemüse und schwitzende Leiber. In einem Laden wird Fleisch feilgeboten; der rötliche Saft schimmert in der Sonne, der Geruch unerträglich. An der Bahnstation geht eine wirre Alte im Kreis umher. Vor einer Tür verspritzte Flüssigkeit, darin etwas, das wie ein Haarbüschel aussieht. Die Menschen wirken entspannt, auf eine unerwartete Weise leicht, so, als ob es die Maschine, in der sie keinen Platz haben, nicht gäbe. Sie haben damit den Bewohnern vieler anderer Viertel etwas voraus.

West Norwood. Ein alter Mann, vermutlich Kubaner, grüßt ein vorbei- fahrendes Auto, indem er mit dem Gehstock wedelt. Trotz seiner verbrauchten Erscheinung verleiht ihm die Nelke im Knopfloch etwas überaus Nobles. In der Park Street sieht man dergleichen nicht.

Der Friedhof liegt an einer belebten Stelle, wovon nicht nur der Lärm des Verkehrs zeugt. Dennoch ist er an einige Stellen von einem enormen Verfall gezeichnet. Hier und da hat der hohe Grundwasserspiegel die Anlage versumpfen lassen; die Erde verschluckt die Gräber. Auf dem Hügel des Friedhofes sind ganze Gräberstreifen mit Stacheldrahtzaun abgesperrt, darunter einige Mausoleen. Gedanke an den Glanz im Viktorianerflügel der National Portrait Gallery. Vermutlich haben diejenigen, die sich hier bestatten ließen, nie daran gedacht, dass in nur 150 Jahren vielfach nicht einmal mehr die Inschriften zu lesen sein würden. Sic transit gloria. Oder: „And I figured out that life’s for the living / while you’re alive“.