"Es gibt nur eine Maxime - das ist die, daß man sich mit dem Tode befreunden muß." (Jünger, Strahlungen)

Dienstag, 13. März 2007

Metropolis (VII)

Kensal Green im Nordwesten. Überraschend gut erhalten. Rasch wird klar warum: Hier herrscht noch Hochbetrieb. Allein an diesem Morgen zwei Beerdigungen. Trauermärsche, bei einem hält die Kamera auf dem Stativ die Prozedur fest, bei dem anderen donnert ein Kanonenschlag. Das verscheucht nicht nur die Vögel.

Selbst der Verfall scheint hier kontrolliert. Die Steine und Monumente sind nur Dekoration eines pietätvollen Gedenkgartens. Es wundert nicht, dass in einem Teil Rosensträucher statt Grabsteine die letzten Ruhestätten markieren.

Zwischen den Vergessenen sind auch viele Neuankömmlinge zu verzeichnen. Besonders die sehr Jungen haben oft hässlich bunte Gräber. An einem wurde die komplette Ausstattung eines Kinderzimmers ausgeschüttet.

Im Vergleich zu der strikten, aber zeitlosen Symbolik der Viktorianer erweisen sich die meisten neuen Gräber, insoweit sie über die reine Funktion hinausgehen, als verfehlt. Die Bedeutung der Gräber ist allerdings seit dem 19. Jahrhundert stark gesunken; Großbritannien verbrennt heutzutage etwa drei Viertel seiner Toten, womit es auf Platz 3 hinter Indien und Japan rangiert.

Umso überraschender sind Gräber, die ohne Traditionsbezug eine starke Wirkung haben. Auf diesem Friedhof ist es das eines 23-jährigen, das von seinem Namen und den Worten „brother, boyfriend, son“ umschlossen ist. Das ist nicht nur eine wohl unbewusste) Aufnahme der viktorianischen Trias „Glaube, Hoffnung, Barmherzigkeit“ (als drei aufeinander ruhende Steine), sondern erinnert auch an die Lücken, die jeder Tod im Leben reisst, an die Wunden. Auch ist dieses Grabmal ein Beispiel dafür, dass ein würdevolles Grab keinesfalls kostspielig sein muss. Weniger gut die Bank, die vor dem Grab steht: Man sollte der Schwere standhalten, nicht nachgeben und niedersinken.

Noch einmal East End. Abends Whitechapel, ostwärts. Schwere Gerüche und satte Farben auf der Straße, wo gerade Marktbuden abgebaut werden und Müll über den Boden weht. Immer wieder Sirenengeheul, das das vielsprachige Stimmengewirr zerreißt. Anregende Vitalität. In den kleineren Strassen ruhiger, geschlossener. Als einziger Weißer die Erfahrung, was Hautfarbe bedeutet. Dazu die verwunderten Blicke.

Von hieraus in die Wohnquartiere der Leute. Das ist nicht das Armenghetto Dickens' mehr. Selbst die jämmerlichsten Typen hier sind noch wohlgenährt und ausreichend bekleidet. Die Unterkünfte scheinen im passablen Zustand zu sein; nur selten der berüchtigte Gestank – es ist in den Gassen glücklicherweise zu dunkel, um zu sehen, wovon genau er stammt. Die Gleichgültigkeit gegenüber der Umgebung ist also durchaus geblieben; vor einigen Haustüren monströse Müllhaufen.

Zu behaupten, die Bangali, die heute East End bewohnen, hätten die Rolle der Iren und anderer Unterschichten des 19. Jahrhunderts übernommen, ist ignorant. Tatsächlich beweisen diese Viertel, dass es doch einen Fortschritt gibt, der alle Boote anhebt. Wenn auch nicht in gleichem Maße.