"Es gibt nur eine Maxime - das ist die, daß man sich mit dem Tode befreunden muß." (Jünger, Strahlungen)

Mittwoch, 26. Dezember 2007

Der Löwin

"So what's the use between death and glory?
I can't tell between death and glory.
Happy endings, no they never bore me.
Happy endings, they still don't bore me."

Mittwoch, 12. Dezember 2007

Nachtschrei

"The Bridal Nightmare

Nightmare in whose arctic wings

Lifelong I unmoving lie

Folded at your cold heart I sleep

Outside in uncharity.

Bridal nightmare, sheeted, stained,

Broken, now, is that vain idol

Bespoken bridegroom I beside.

That cracked cup, an empty heart

Fell away and, from my hand,

Slipped lie and poison on my pillow,

Lie lifelong here at my left side,

Unspeaking and unspoken bride

For every side we lie beside

Satisfies and is satisfied.

Unbridled nightmare, day bedfellow,

I am my nightmare, awake, asleep;

Creep out, creep out, cold man, and comfort

The wrongs where they weep!"

Dienstag, 11. Dezember 2007

Hinter der Grenze

Grenzen der Beobachtung. Die Beobachtung setzt Zeit und Raum, in einem: Distanz voraus. Wo diese beiden Größen aufgehoben werden, da endet die Beobachtung. Versuche, dennoch zu beobachten, scheitern. Die Worte werden im Vergleich zum Bezeichneten schon im Moment des Schreibens schal. Jenseits von Zeit und Raum verlieren auch sie ihre Kraft.

Samstag, 8. Dezember 2007

Die Achterbahn

Achterbahnfahren im Dunklen. Unsichtbarer Anstieg zu ungeahnten Höhen. Das Bewusstsein dafür folgt dem abruptem Fall: "Es war wie Fliegen." Die Schwerkraft wirkt mächtig. Glücklich, wer gehalten wird.

Donnerstag, 6. Dezember 2007

Don't Look Back

Der Diarist: „Wir haben gebüßt, aber die Narben schmerzen immer noch, und manchmal stärker, als die Wunden geschmerzt haben. Daß wir Unrecht erlitten, haben wir vergessen, aber daß wir Unrecht taten, verwinden wir nicht.“ (SV I, S. 244). Zugleich zeugt der Schmerz von Leben: Wir wurden verwundet, aber nicht tödlich. Begangenes Unrecht tritt hinter diesen Zuchtmeister zurück, der Blick richtet sich gen Nebel.

Dienstag, 4. Dezember 2007

Züge

Aus der Korrespondenz:

"Ein Gedicht von der immer wieder bemerkenswerten Anna Achmatowa.

Der eine geht

Der eine geht geradeaus,
Der andere in Kreisen,
Und beide wollen ins Vaterhaus,
Zu alten Freunden reisen.

Und ich schlepp meine Wiederkehr
Auf keine dieser Weisen
Ins Nirgendwo und Nimmermehr
Wie Züge, die entgleisen."

Montag, 3. Dezember 2007

Hauptbahnhof

Hauptbahnhof. Vor dem Aufzug ein junger Mann im Rollstuhl. Wie ein Holzscheit liegt er in dem Gefährt, sein Kopf ragt über die Lehne hinaus, die blitzenden Augen an das dunkle Glasdach geheftet. Fernzüge fahren ein, Reisende strömen aus. Ihre weißen Kragen, Mobiltelefone, Wanderrucksäcke, Rosen und Lokalzeitungen ziehen an des jungen Mannes Augen vorbei, die gleich im Fahrstuhl verschwunden sein werden. Augen, die vielleicht nicht mehr als eine Abfolge von Wänden, Decken und einigen wenigen Samariterphysiognomien kennen.

Das ist eine Erinnerung daran, wie groß dasjenige Glück ist, auf dem alles gründet, das aber nur im Zusammenbruch sichtbar wird. Sie blitzt auf und verschwindet, während sich hinter einem die Zugtür schließt.

Samstag, 1. Dezember 2007

Schauspiel(er)

U-Bahn, Rückfahrt. Drei abgetakelte Fregatten trösten sich über ihr verlorenes Spiel von Angebot und Nachfrage mit Spötteleien hinweg. "Kick dir den da an!" Der, ein vierschrötiger Pelzträger mit Puterkopf torkelt zur Bahn, findet die Tür nicht und bleibt zurück. Die drei Parzen lachen hämisch. - Aus den Kopfhörern: "One and the same / One and the same, / No, it's not the same / It's not supposed to be the same." - Sie haben ein neues Ziel gefunden. "Aber der hört doch eh nüscht!" Gegenüber fließt Schwarz vom Kopf auf die weiße Brust, rinnt in schmalem Bett herab und sammelt sich in einem schwarzen Bändchen in schwarzen Händen. Darin die biographischen Fragmente einer zerschütterten Seele mit großartiger Fehlsichtigkeit: "Ich habe als Mitgift für das Leben den Blick bekommen. Das - wenn ich das Wort gebrauchen darf - geniale Schauen [...]. Dieser Blick ist die eigentlich philosophische Gabe. Philosophische Fachwissenschaft ist philosophischer Unsinn."

Die Welt als Anschauungsobjekt rechtfertigt sich ethisch durch sich selbst. Jeder Betrachtende ist zugleich Betrachteter und hat damit das Entrebillet gelöst.

Montag, 26. November 2007

Widerstand und Aerodynamik

Erinnerungen an die Jugend oder die Orte, wo Pfade beginnen. Die Überwindung widriger Umstände als ein Akt des Widerstandes oder natürlicher Aerodynamik. Widerstand dabei Verdrängung und Kampf gegen die Schwere – der Geburt, der Umwelt, gesunkener Hoffnungen. Dagegen Aerodynamik, wo diese Barrieren fehlen, aber das Fliegen infolge von Missgunst ebenso schwer sein kann. Die Pfade kreuzen sich in der Luft.

Im Rückblick erscheinen die Schläge und Rückschläge als notwendige Bedingung des Flugs. Sie deuten auf eine lange und gründliche Arbeit an der Substanz hin. Das setzt natürlich eine entsprechende Materialhärte voraus. Apologien für eine verkommene Welt, aber auch ein lebendiges Trotzdem von letztlich zweifelhaftem Wert.

Schließlich die Frage nach den Spuren der Überwindung. Obwohl Abnutzung zu erwarten und zu entschuldigen wäre, ist sie nicht zwangsläufig. Ausstrahlung großer Lebensbejahung ist auch eine Möglichkeit. Vielleicht ist sie sogar Ideal: Trotz allem nicht nur souverän, sondern lebensgewandt und wie unter ihnen zu sein – das ist der Pfad, der in einen Triumphzug übergeht.

Freitag, 23. November 2007

Gespenster

Staatsbibliothek. Ein alter Mann geht die Handbibliothek ab und grummelt im Rauschen arbeitenden Papiers. Vernachlässigte Kleidung, der Gang gebeugt und mit unruhigem Blick. Einige Leser heben vogelartig den Kopf und senken ihn sogleich wieder. Der Mann schlurft in einen anderen Bereich, murmelt etwas Unverständliches. An einem Richtungsschild bleibt er stehen und betrachtet es lange und eindringlich, als handle es sich dabei um das Buch, das er sucht, aber hier nie finden wird.

Ein Gespenst. Zwischen den Büchern und den Selbstbeschäftigten ist es unsichtbar. Erst wenn sich die Nachbarn eines Tages über den Gestank aus seiner Wohnung ärgern werden, wird das Gespenst gesehen werden. Es wird dann nach dem sozialen auch den physischen Tod gestorben sein. Vielleicht wird man fragen, wer das Gespenst zu Lebzeiten gewesen ist. Dass es in einer Bibliothek sein Unwesen treibt, deutet auf einen „Gelehrten“ hin. Einer, der sein Leben der Athene verschrieben hat, vielleicht durch Studien zu dem „frühneuzeitlichen Fideikommiss unter besonderer Berücksichtigung der ostelbischen Gebiete“, den „absurd-grotesk Grotesken & Absurditäten“ oder dem „Verständlichen bei Fichte“. Hat dabei nicht gemerkt, wie Körper und Geist während der Kärrnerarbeit für die kalte Göttin verfielen, ehe es zu spät wurde um zu reagieren. Kollegen, Bücher und andere Fossilien werden das Gespenst vermissen.

Montag, 19. November 2007

(Fehl) Funktion

„Ein alter Notar hat zwei Schreiber und einen Lehrling. Der eine Schreiber hat Verdauungsprobleme, der andere ist ein Säufer und der Lehrling sammelt Nüsse. Der Notar stellt einen dritten Schreiber ein. Bartleby kopiert still und fleißig Verträge, immerzu Verträge. Andere Aufgaben lehnt er ab: „Ich würde vorziehen, es nicht zu tun.“ Der Notar bleibt machtlos. Als Bartleby bald überhaupt nicht mehr arbeitet und schweigend vor sich hinträumt, will der Notar ihn feuern. Es gelingt nicht, denn der Schreiber lebt längst in dem Büro. Bestechungsversuche lehnt er ab. Der Notar zieht aus, Bartleby bleibt. Auch der Nachmieter will den ungebetenen Gast nicht haben und entledigt sich seiner. Bartleby kommt ins Gefängnis, wo er trotz Beistand des Notars schließlich eingeht.

[…]

Indes ist die Überschneidung mit Kafka größer als es die Ähnlichkeiten in Darstellung und Denken des Absurden vermuten lassen, mehr also als „kafkaesk“ meinen kann. Im „Bartleby“ hat Melville früh zu fassen versucht, was Kafka und seinen Nachfolgern längst ihre natürliche Lebensumgebung geworden war: die Moderne und ihre rationale Arbeitsteilung oder das, was Max Weber später als „stahlhartes Gehäuse“ bezeichnete.

Ein „stahlhartes Gehäuse“ ist schon das Büro, in das Bartleby einem Gefangenen gleich einzieht und in dem ihm nur die Wahl zwischen der monotonen Arbeit und dem Blick in den trostlosen Hof bleibt. Als MenschMaschine erfüllt er seine Funktion, ist so stark spezialisiert, dass er jede andere Tätigkeit, und sei es nur ein einfacher Botengang, ablehnt. Selbst die Fehlfunktion, die er erleidet, hindert ihn nicht daran, seinen Platz zu räumen. Es gibt keinen anderen für ihn. Im einzigen längeren Gespräch mit dem Notar behauptet der Schreiber jeden Beruf annehmen zu können, nicht anspruchsvoll zu sein – und lehnt doch jede andere Funktion ab. Selbst eine Schreiberstelle in einer anderen Zelle interessiert ihn nicht: „Nein, ich würde vorziehen, mich nicht zu verändern.“

Melville kannte das „stahlharte Gehäuse“ gut. Als Sohn eines heruntergekommenen Kaufmanns musste er sich nach dessen Tod mit allerlei Jobs über Wasser halten, darunter als Schreiber in einer Bank. Seine Erzählung heißt mit vollem Titel „Bartleby, der Schreiber: eine Geschichte aus der Wall Street“. Aber anders als Bartleby und anders als Kafka mit seinen Fehlfunktionen ist Melville nicht eingegangen, sondern ausgebrochen: zu den Meeren, zu Moby Dick.“

Freitag, 16. November 2007

Stoiker in der Praxis

"There have been several reports in the media about my personal wealth. Frankly I'm amused. It matters little to me whether my personal fortunes are measured in billions or millions." (Mukesh Ambani, Tycoon & vielleicht zweitreichster Mann Indiens)

Mittwoch, 14. November 2007

one thousand times

"We are born to die / one thousand times." Ein mögliches Leben stirbt. Die Hoffnungen, Erwartungen und der Wille zu dieser Möglichkeit sind mit einem Male verloren. Schon fällt es schwer, die alten Ideen noch einmal zu denken. Aber das war ja nur eine von so vielen Möglichkeiten, einer von so vielen Toden.

Eine Frage: Wann das Zählen wohl ermüdet und endet?

Ein Trost: Auch die abenteuerlichsten Viten fassen nicht mehr als einige Dutzend möglicher Leben.

Samstag, 10. November 2007

Geraubte Gewinne

Reisen im Kopf, Träume, zusammen durchwachte Stunden – hier wird Luxus mit der Zeit getrieben. Aber auch Raub an der Gesellschaft betrieben? Ein Tag, der bewusst die übliche Zeiteinteilung sprengt und jede vergehende Minute um des Verlebens willen schätzt, erscheint zunächst so. Der Gläubige weiß danach, der Eiferer schon unterdessen, dass er sich gegen die Götter der Vernunft erhoben hat – das schlechte Gewissen pocht. Rechnungen gehen nicht mehr auf, Löhne langweilen und irgendwann fährt der Zug ab. Und doch ist da eine andere Seite, die doppelte Buchführung. Sie lässt ahnen, welches innere Kapital in solchen Sonnenstunden des Lebens angehäuft wird. Das wird auch noch in den Großen Depressionen eine lebensspendende Dividende abwerfen.

Donnerstag, 8. November 2007

Verdauung der Noia

Zwei Stunden am späten Vormittag, Höchststand der Noia. Ein Rentner, der allein in einer Bäckerei steht, Kaffee trinkt und sich an den gelegentlichen Kunden und den Passanten draußen wärmt. Ein anderer steht vor dem Eingang des Kaufhauses gegenüber und spielt erbarmungswürdig schlecht, ohne auch nur einen Zuhörer, Mundharmonika. Sein Spiel gerät unter die laut quietschenden Räder einer Straßenbahn. Darin zwei frühere Fabrikarbeiterinnen, eine mit blond verfärbtem Haar. Die beiden Frauen fahren zwischen Ämtern, Supermärkten und ihren Wohnsilos in Richtung Vergessen. Der Trinker an einer Haltestelle ist schon weiter und zieht seine Runden nur noch zwischen den Mülltonnen. Die Frauen tuscheln, als er an der Bahn vorbeiklimpert. An der Endhaltestelle ein kleines Rudel um einen Hund herum. Kurzgeschorene Schädel, Flecktarn, Bier und schwere Stiefel. Sie ärgern das Tier, das unentwegt knurrt, gelegentlich zur allgemeinen Erheiterung aufbellt. Eindruck, dass sie nur wegen ihrer Stiefel noch aufrecht stehen.

Von diesen Aus-Fahrten stets mit düsterer Ahnung zurück. Wie sehr die Ameisen doch die Ordnung und ihre Aufgabe darin brauchen. Im Idealfall gelingt eine tolerierte, ja vielleicht honorierte Ersatzordnung. Häufiger scheint dagegen der Sieg der Noia mit ihrer so grausam langsamen Verdauung.

Dienstag, 6. November 2007

Detailverliebt

Malaparte, Die Haut. Beschreibt oder erdichtet das Verschwinden seines Hundes Phöbus, der ihm das liebste Wesen auf Erden ist („Ein Hund wie ich“). Sucht ihn auf den Straßen, in Tierheimen und bei Tierhändlern, endlich in einem Universitätsklinikum. Dort verkaufen Hundediebe ihre Beute, die man der Vivisektion unterzieht. M. wird von einem Arzt durch das Labor geführt und sieht die stumm leidenden Hunde, denen man Hirn, Herz oder Lunge freigelegt hat. Auch sein Hund ist darunter. Während der Arzt die Todesspritze vorbereitet, wundert sich M. über Phöbus' Schweigen. Der Arzt erläutert ihm, dass man den Hunden vor dem Eingriff die Stimmbänder durchschneide.

Mit diesem Detail endet die Episode. Es kommt also nicht auf Quantität und Qualität des beobachteten oder erdichteten Leids an, sondern den feinen Stich, der trifft.

Sonntag, 4. November 2007

Song for Bob

The Assassination of Jesse James by the Coward Robert Ford. Ein Film, der erst Tage später vollständig durchgedrungen ist, wie schwere Winterkleidung, die irgendwann vom schmelzenden Schnee durchgesogen ist. Er handelt vom Sterben, zufällig dem eines Revolverhelden und seines größten Bewunderers. Wie William Blake in Dead Man zieht Jesse James durch unaufhörliche Weiten ehe er den gesuchten Tod findet; eine schmerzlich langsame Abfolge lakonischer Totenbilder. Auch sein Begleiter Robert Ford stirbt mit ihm wie Nobody mit Blake gestorben ist: Nachdem sie ihre Aufgabe erfüllt haben, dürfen sie gehen.


In den letzten Minuten des Filmes wird der erste Punkt durchnässt und kalte Tropfen rinnen den Rücken herunter. Ford darf darin noch einige Jahre leben, ist aber schon nicht mehr da; der Zeitraffer lässt nicht nur die Jahre schwinden. – Ein Film, bei dem der Saal weiter verdunkelt und das bunte Tonlicht bedeutende Figuren in die Finsternis zeichnet.

Mittwoch, 31. Oktober 2007

Anekdoten I

Eine wenig bekannte, die "Romantik des Kots":

"[Wir] stürzen vom Strohlager mit Ruhranfällen, die uns den Unterleib wie mit Zangen zerkneifen, zur Latrine und besudeln uns, drei Schritt vor der Stange zerberstend, auf eine unbeschreiblich gemeine und ekelhafte Weise, alles mit Unterhose, Hemd und Strümpfe auffangend, die wir nur mit einem gestern genau so niederträchtig zugerichteten Unterzeug wechseln können....und das dreiundzwanzigmal in zwei Wochen, ein liebliches Heldentum, von dessen Vorhandensein sich zu Hause kein Mensch was träumen läßt...aber die Läuse ziehen es wenigstens vor, diese wandelnden Kothöllen zu verlassen, und das will was heißen: selbst die Läuse! Und da soll man nicht geradezu rasend werden und auf Gedanken kommen, die im Interesse des Krieges höchst unerwünscht sind! Wer wagt es, dagegen den Mund aufzutun, vielmehr das Maul aufzureißen und uns um diese ertragenen Leiden durch Wegleugnen hinterlistig begaunern zu wollen! Ja, das war die Romantik des Kots, der in den Schweiß- und Drecklappen von Wäsche festtrocknete und bei jedem Schritt schlimmer als Läuse die Haut zerkratzte, in kleinen Blättchen abschilferte und sich als Staub in Stiefeln und Strümpfen ansammelte. Pfui Teufel!“ (Franz Schauwecker, Der feurige Weg)

Freitag, 26. Oktober 2007

In dieser großen Zeit

Wien, Heldenplatz. Mit einer großen Soldatenspielerei ("Bundesheer") feiert das Land den Abzug der letzten sowjetischen Truppen vor 52 Jahren. Brave Volksfeststimmung. Soldaten exzerzieren zu bekannten Melodien aus Western-, Action- und Science Fiction-Filmen. Auch den Walzer quittieren sie mit den gleichen militärischen Lachnummern; die Menge kann die abgehackten Bewegungen der verkrampft dreinblickenden Helden auf Großbildschirmen verfolgen. Einige Meter entfernt überwachen zwei dicke Generäle die Operation ihrer Soldaten. Der Eindruck von roten Nasen, alten, faltigen Hunden und Brandwein drängt sich auf. Nach der Schau drängen die Menschen zu dem ausgestellten Kriegsgerät. Es darf angefasst und fotografiert werden. Kinder kriechen in Panzer und lugen aus Geschütztürmen hervor: "Feuer!" In einem Tarnzelt verteilt ein gutmütiger Schwejk etwas an die Anstehenden. Es sind Automatikgewehre und Schwejk erklärt mit liebenswürdiger Gemächlichkeit, wie sie entsichert und angelegt werden, wie sie bei Regen und Schlamm noch ihren Dienst verrichten und anderes mehr. Wozu sie gut sind, hat er vergessen.

Am Abend bläst ein Soldat zum Zapfenstreich. Der Offizier in der Nähe hält die rechte Hand an die Brust und lauscht andächtig. Deklamierte daraufhin "In den Wind gereimt", die beliebte Rubrik eines weit verbreiteten Schmierblatts: "Das große nationale Fest / taugt heute nur noch zum Protest. / Denn feiern können nur, die heucheln / weil sie alles meucheln / was einst zum Frieden Anlass gab. / Sie schaffen unsere Freiheit ab, / Demokratie, Neutralität, des Volkes Souveränität, / und opfern alles der EU. / Wir aber schweigen nicht dazu!" - Vivat Austria!

Donnerstag, 25. Oktober 2007

Hans im Glück

Wien, Zentralfriedhof. Nieselregen bei trauergrauem Himmel. Am Haupteingang vermischt sich der Geruch der Grabkränze mit dem der Fressbuden. Es erstaunt, wie viele Händler hier ihr Auskommen zu finden scheinen. Doch dann ist dies der zweitgrößte Friedhof Europas und auch einer der betriebsamsten. Große Verwaltungsbauten direkt hinter dem Portal, in allen Ecken Besucher und Hinterbliebene, und seit kurzer Zeit auch Autos auf den breiten Wegen. Sogar eine eigene Buslinie verkehrt hier. Konzessionen an einen bizarren Betrieb; "death is not the end".


Während der Stunden an diesem Ort, in denen der Lebensgeist allmählich dem Regen, der Kälte und den verwitterten Steinen nachgibt, eine Lektion in der Nichtigkeit von Titeln. "Commerzial-Rat", "Haus- und Realitätenbesitzer", "Rechtsprofessor", "Tischlermeistergattin" - Spleen eines Volkes, in dem solche Namenszusätze gern gesehen sind und in dem selbst der "Herr Magister" Achtung verlangen darf. An diesem Ort des Vergessenwerdens gelangen sie zu ihrem höchsten Ausdruck.

In einer Arkadengruft ein "provisorisches" Grab von 1919: "Unser Hans", 22 Jahre alt. Die einfache Steinplatte wirkt stärker als der Marmor und die Standbilder um sie herum. Sie zeugt von dem tiefen Schmerz, den die Seinen litten. Was mit ihnen geschehen sein mag, dass dieses Grab "provisorisch" blieb? Der Tod des Sohnes fällt nicht zufällig zusammen mit dem Untergang Österreich-Ungarns. Eine winzige Kerbe der Geschichte.


Hinter einer Gräberreihe das Gespräch einiger Totengräber mitgehört. Taxieren den Wert von Steinen und Begräbnissen. Es handelt sich offenbar um einträgliche Dienstleistungen. Dieweil fürchtet sich irgendwo ein altes Mütterchen zu sterben, weil es nicht das Geld für ein ordentliches Begräbnis hat. Angewidert von dem Konformitätsdruck dieser letzten Orte einem anderen Totengräber beim Ausheben eines alten Grabes zugesehen. Die Grube spuckt lehmige Erdklumpen aus, die auf den Erdhaufen daneben klatschen. An Tiere und Kinder gedacht, bis der Spaten auf Holz stößt. Es hilft nicht, das Entwürdigende dieser Verwaltungsmaßnahme zu übersehen.

Auf der "Kriegersektion" des Friedhofs, weit am Rande und gegenüber einem Rangierbahnhof. Die in den Boden eingelassenen Steinplatten sind von Moos bewachsen, einige zerbrochen, die Namen oft vom Regen ausgewaschen. Nur die eisernen Kreuze sind dann noch zu erkennen. Das Betonkreuz eines 22jährigen, eines anderen Hans, der "für Kaiser und Reich" gefallen ist. Der linke Teil ist abgebrochen, nur ein rostender Gitterstab erinnert an ihn. "Für Kaiser und Reich". So verrotten vergessene Verlierer.



Montag, 22. Oktober 2007

Die Anekdote

Malaparte, Kaputt. Das stärkste Bild in dem Roman über menschliche Bestien: Die Pferde der Roten Armee, die auf der Flucht vor finnischen Gebirgsjägern in den Lagodasee flüchten und dort plötzlich eingefrorenen werden. Hunderte von Pferdeköpfen ragen den folgenden Winter über aus dem See heraus. Die Szene, ob sie historisch wahr ist oder nicht, erfüllt auf Erden, was Dante vor Jahrhunderten nur im tiefsten Kern der Hölle finden konnte. Die bloße Vorstellung, dass dies im Krieg geschehen sein könnte, spricht für das Bild.

Generell gehört es zu den unentscheidbaren Fragen, ob solche Bilder von billiger Obszönität – so der Korb voll Austern, die sich als „20 Kilogramm Menschenaugen“ herausstellen – oder entwaffnender Direktheit sind. Man fragt stattdessen besser nach dem Wert der Anekdote. Es ist zweifelhaft, was außerhalb der berufsmäßigen Deutung von Geschichte bleibt. Die Anekdote als bezeichnende Vorstellung von einer Sache, einer Person oder einer Zeit wird zweifellos dazugehören. Geschliffene Preziosen.

Samstag, 20. Oktober 2007

Kontraste

Beobachtungen in der Stadt der Armen und ihre Veränderung. Die ersten Anblicke solcher Art waren bedrohlich, zeigten in hässlich alltäglichen Bildern den Teil des Lebens, der Kampf und Verdrängung ist. Damals wurde von der Magengegend her klar, dass banales Scheitern möglich war und dass dies das Leben nicht im Geringsten bekümmern würde. Die Welt, die von Elfenbeintürmen aus so formbar wirkte, härtete in solchen Augenblicken aus – Berliner Härte.

Die Wahrnehmung hat sich seitdem verändert. Der Blick für die Abgeworfenen und Überflüssigen hat sich erhalten. Er ist jedoch zu einem erwartenden Blick geworden, der die vertrauten Statisten aus Gewohnheit registriert. So erklärt sich die Beruhigung, den verwachsenen Alten wiedergesehen zu haben. Damals hatte sein Schicksal aufrichtiges Interesse geweckt: Wer war dieser Mann, der stets kurz vor Schließung auftauchte und allein sein kärglich Mahl hielt? Ein Ingenieur, so hatte es einst am Nachbartisch geheißen, den der Selbstmord des Sohnes aus der Bahn geworfen habe. Heute fällt der Alte wieder auf, aber der Gedanke ist ein anderer: Auch dich gibt es also noch.

Freitag, 19. Oktober 2007

Bahnbeobachtungen

Ein junger Offizier am ehemaligen Kaiserbahnhof. Idee, er gehöre in Wirklichkeit zu einer Spielgruppe und absolviere hier einen Auftritt, wie ihn die Regeln vorschreiben. Warum sonst der Ernst seiner Haltung? Im Zug dann ein kleiner Junge, der noch zu spielen weiß: „Mama, ich will Schaffner oder Archäologe werden. Kann man auch beides sein?“

Samstag, 13. Oktober 2007

Bernstein

Kiel, eine ehemalige Offizierswohnung. Die kleine Abstellkammer war einmal das „Zofenzimmer“. Der Hausherr erzählt es im Plauderton, als ginge es um einen altertümlichen Brauch, der heute völlig abwegig sei. Beim abendlichen Umtrunk mit drei „Elitestudenten“ lässt der Professor dann erkennen, dass ihm die alten Unterscheidungen nicht fremd sind; sie sind feiner und damit auch perfider geworden. Der Kommilitone v. D. parliert gekonnt und stellt allerlei Fragen zu Architektur, Wein und klassischer Bildung, die den Gastgeber sichtlich erfreuen. In solchen Situationen vergeht die Zeit zwischen Echsenstarre und Minenfeld.

Nachtlager im Arbeitszimmer des Emeritierten. Er behauptet, darin noch zu arbeiten. Die nächtliche Wirkung dagegen museal und luftarm. Die Bücherreihen wie Requisiten eines ruhigen Lebens, die zur Kulisse versteinert sind. Dieser Eindruck wird am Morgen verstärkt, wenn gelbes Licht das Zimmer langsam erfüllt und der Staub darin tanzt.

Mittwoch, 10. Oktober 2007

Fiktionen

Fiktive Beurteilung. Notwendige Zutaten:

5/10 Hochmut

4/10 Spiel

9/100 Rhetorik

1/100 Körnchen Wahrheit

Parallellektüre: „Geständnis und Lüge ist das Gleiche. Um gestehen zu können, lügt man. Das was man ist kann man nicht ausdrücken, denn dieses ist man eben; mitteilen kann man nur das was man nicht ist, also die Lüge. Erst im Chor mag eine gewisse Wahrheit liegen“ (Kafka, Zur Frage der Gesetze).

Sonntag, 7. Oktober 2007

Herbst #26

Brandenburger Straße. Sie schwärmen träge durch die Wärme des auskühlenden Jahres. Noch stehen die Türen der Läden und Lokale offen, laden zum kurzen Verweilen ein. Drei Viertel der Straße liegen bereits im Schatten des nahenden Winters. Wo die Sonne scheint, verlieren sie ihre Konturen, verschwimmen zu Flecken in Honiglicht.

Unter den Mücken gehen die Leute ihrem Treiben nach.

Samstag, 6. Oktober 2007

Nebel

Nachtbus, zu früh ausgestiegen. Die Straße liegt im Nebel, nur das Knirschen der Steine unter den Schuhen zu hören, das wabernde Gelb naher Laternen zu sehen. Der Blick zurück wie derjenige nach vorne ergeben das gleiche Bild; es gibt nur das Hier.

Freitag, 5. Oktober 2007

Rot

Zweite Ankunft. Die Gleichgültigkeit und Geschäftigkeit der Stadt ist die alte, nur ein Parameter anders: Erwartet werden. Licht aus dem oberen Stockwerk, eine offene Tür und nächtliche Worte. Die Reise erhält so einen Fluchtpunkt, an dem sie in einen anderen, unerwarteten Zustand übergehen kann – Zufriedenheit.

Ebenso eine Unterweisung in Zufallslehre. Wie in einem Strategiespiel hat ein jeder sein Sichtfeld, das den Nebel des Krieges und anderer Metaphern in einem bestimmten Raum aufhebt. Sinnesschärfe und Erfahrung entscheiden über seine Größe, die aber stets unzulänglich bleibt im Dunkel ungezählter, aufeinanderprallender und einander verfehlender Partikel. Welch wunderliche Wirkung darin ein Paar roter Hausschuhe haben kann.

Mittwoch, 3. Oktober 2007

Retrospektive

Jünger, Strahlungen: „Es gibt ein Sterben, das schlimmer ist als der Tod, und das darin besteht, daß ein geliebter Mensch das Bild, mit dem wir in ihm lebten, langsam in sich abtötet. Wir löschen in unserer Aura in ihm aus. Das kann durch dunkle Strahlung kommen, die wir senden; die Blüten schließen sich langsam von uns ab.“

Freitag, 28. September 2007

Von diesen, die ausziehen

Backpacker. „Hi, how are you? bla bla bla Australia / the States bla bla bla high school bla bla bla should we talk about the weather? bla bla bla should we talk about Bush ? bla bla bla Paris? One day! bla bla bla Yeah, Germany: Octoberfest! bla bla bla” – Eine Gruppe, die sich im Kosmopolitischen wähnt, aber nur in einer vorgegebenen Bahn kommt, glotzt und geht: der des Preises. Wer das für „alternativ“ hält, kann darunter nur „low budget Tourismus“ verstehen. Ein Indiz dafür, wie wenig diese Reisenden mit „jenem, der auszog“ gemein haben: Man kann die backpacker Touren heute unter dem Punkt „Besonderheiten“ im Lebenslauf anführen.

Und doch lohnt die Reise selbst unter diesen Bedingungen. Der Reisende hat gegenüber seinen Zeitgenossen den Vorteil für kurze Zeit aus dem allgemeinen Treiben heraustreten und diesem als untätiger Beobachter beiwohnen zu können. Das setzt zweierlei voraus: Dass der Reisende sich nicht in einen „Ersatzbetrieb“, das heißt den Massentourismus, einspannen lässt. Zusätzlich darf er die beständige Mühe nicht scheuen, zu sehen statt nur zu glotzen. Das bedeutet nicht einfach kritisch zu sein, sondern ein Auge zu haben für das, was auch da war.

***

Ein Viertel verbraucht – wenn man eine viel zu optimistische Lebenserwartung zugrunde legt. Gelernt: Aufholen ist leicht; man orientiere sich an den Vordermännern. Die eigentliche Leistung beginnt allerdings erst da, wo es voranzuschreiten gilt. Das Wohin wird dabei vorläufig suspendiert.

Donnerstag, 27. September 2007

Stolz vs. Natur

Versailles. Von weitem verstellen lange Reihen von Reisebussen und eine Holzkulisse die Sicht. Auf dem Schlossplatz hat sich schon am Morgen eine lange Schlange von Menschen gebildet, die zum Glotzen in das Innere des Schlosses wollen. Unwillig hier auch nur eine Minute in der Menge zu warten, sogleich zum eintrittsfreien Park. Hoffnung: Die Natur ist unparteiisch. Dort dennoch die nächste Enttäuschung: Das Dritte Reich der Gartenkunst. Alles symmetrisch, beschnitten, geformt und genormt. Die Alleen eine einzige Linie, gesäumt von grün-braunen Pfosten, die sonst Bäume wären. Welcher Geist findet an dieser gekünstelten Natur nur Gefallen? Die Lust an dem „Garten“ verloren.

Kleine Lichtblicke: Im hinteren Drittel des Parks gibt es einige Flächen, die verwildert sind; dort bleiben einem auch die menschlichen Stative erspart, die die ihnen im Voraus bekannten Motive bereits auf den ersten hundert Metern fanden. Amüsant ein älterer Chinese, der unverständig das frivole Relief einer großen Vase begutachtet. Absurd, aber dem Charakter dieses Orts entsprechend dagegen die Touristen, die bei etwa 10 km/h in kleinen Plexiglaswürfeln vorbeigefahren werden. Andere sind verwegener und mieten ein kleines Gefährt, mit dem sie das Gelände noch schneller abklappern: Einer fährt, hält gelegentlich für einige Sekunden an, in denen die anderen fotografieren, und fährt dann weiter.

Mittwoch, 26. September 2007

Stolz in Marmor

Am Grabe Napoleons. Jede Nation hat ihr Laster. Bei den Franzosen ist es ein historischer Stolz, der den Teufelspakt nicht scheut. So wird ein Diktator nur wenige Jahrzehnte nach seiner Verbannung zum Nationalhelden: Unter ihm war das Land, was es nie wieder werden sollte. Hat er denn nicht den Ländern, die er unterwarf, auch Gutes gebracht? Und doch verwundert, ja verärgert es, dass gerade das Land der Aufklärung einem der „großen Männer der Geschichte“ aufsitzt. Hochmut war einst eine Todsünde.

Dienstag, 25. September 2007

Stolz in Stein

Cimetiére de Pére Lachaise. Ein weiterer Spielplatz der Eitelkeiten. Schon am Metroausgang werden Friedhofskarten (2,50 €) verkauft. Gleich daneben macht ein Florist ein gutes Geschäft mit astronomisch teuren und einfallslos langweiligen Friedhofssträußen. Wer trotz dieser schlechten Vorzeichen den Friedhof betritt, muss sich in Gleichmut üben: Überall Touristen, die in Shorts und mit Kleinbildkameras bewaffnet die strategischen Punkte auf der Karte (2,50 €) ablaufen. Gespräch eines amerikanischen Paares, das nach dem Eintreten sogleich den Lageplan angesteuert hat: „Edith Piaf?“ „Here!“ „Jim Morrison?“ „No. 30“ „Oscar Wilde?“ „89“.

Man kann nicht sagen, dass der Friedhof durch die Touristen verschandelt würde. Vielmehr ist er auf solche Spielchen hin ausgelegt. Beim Gang durch die widerwärtig symmetrische Nekropole, bei der nach absehbarem Muster eine Gruft die andere zu übertreffen sucht, weitere Beobachtungen, die zum Verdruss beitragen. So das Grabmal aus schwarzem Marmor, das mit einem Hochdruckstrahl gesäubert wird oder die verfallene Gruft, die mit Gips erneuert wird. Das Grab Morrisons ist erstaunlich schlicht; der enttäuschte Kanadier, wie alle anderen, die zuerst hierhin kommen, fotografiert es trotzdem. Wieder absurde Umstände: Ein hüfthoher Metallzaun, wie er sonst genutzt wird, um die Menge zu leiten, verleiht dem Grab letzte Promihässlichkeit. Außerdem stehen in unmittelbarer Nähe gleich drei Wächter, die sich gelangweilt unterhalten. Immerhin ersparen ein Zaun und drei Wächter Morrison das Schicksal Wildes. Eine Verehrerin hat dessen schlichtes Grab durch einen hässlichen Block samt Sphinx ersetzt. Er ist übersät mit Lippenstift; Siege eines ewigen Dandy. Es sind auch viele Kritzeleien auf dem Stein, der bereits 1992 restauriert wurde und, wie die Plakette warnt, unter Denkmalschutz steht. Eine Nachricht fällt auf: „A toi, mon homme de papier. Alissia.“

Zu den guten Dingen an diesem Ort: Einige Grüfte sind aufgebrochen und geplündert oder werden als Vorratskammern genutzt. In einer scheint ein Obdachloser zu wohnen. Am Krematorium tausende von Alkoven, deren Namen teilweise bis zu 150 Jahre zurückreichen. Der 20jährige, der vor zwei Jahren starb, liegt neben dem Herren aus dem fin de siecle. Schön die alten Titel wie „Madame Veuve…“, auf die seit drei Jahrzehnten nicht mehr zu finden sind. Am besten die Gedenkplatten aus schwarzem Marmor, in denen sich der Betrachtende erblickt.

Cimetiére de Montparnasse. Die alte Misere; doch sind die Karten dieses Mal umsonst. Gute, weil schlichte Gräber Baudelaires, Beauvoirs/Sartres, Huysmans und Becketts. Zu Huysmans Grab führt ein älterer Herr, der schon oft den Umherirrenden ausgeholfen hat. Auf die Frage, ober auch ein Besucher sei, antwortet er: „I am a client.“ Bewundernswert, dass in seinen Worten nicht der geringste Zynismus enthalten war.

Auf Becketts Grabplatte nur noch der Nachnahme ohne jede weitere Information, obwohl seine Frau ebenfalls darunter bestattet liegt. Das ist der absolute Tiefpunkt; hier ist keine Heilsgewissheit mehr. Über seinem Grabe sinnt eine violett gekleidete, junge Dame bei einer Zigarette. Sie lässt sich von den anderen Besuchern nicht im Geringsten stören und beweist damit einen überaus eleganten Stoizismus. Solche Momente dürfen trotz Interesses nicht durch Worte zerstört werden. Schweigend weiter.

Montag, 24. September 2007

Ein halber Tag im Leben eines Kunsthistorikers

Louvre. Es ist fragwürdig, warum heute noch Kunst auf diese Weise präsentiert werden muss. Überall Besucherscharen, die, um die Sache abzukürzen, durch Hinweisschilder zu den „Highlights“ geleitet werden, diese unter Beschuss nehmen oder einfach nur anglotzen, und dann zum nächsten Punkt auf der Karte wandern. Vor allem bei der Mona Lisa nimmt das absurde Züge an. Man kann sich ihr nicht nähern, weil die Menge in dem Leitsystem, das zu ihr führt, verkeilt ist. Von allen Seiten blitzt es auf. Gegenüber stellen Besucher sich vor den Veronese und schauen tapfer drein, während die Fotoapparate in Anschlag gebracht werden und es vielfach aufblitzt. An solchen Szenen verliert man rasch das Interesse und sucht besser das Heil in der Flucht.

Mit der restlichen Zeit getan, was sich stets in Zeitspeichern empfiehlt: physiognomische Studien betreiben. Mit Erheiterung festgestellt, dass der Blick dabei gelegentlich von den Gemälden und Büsten auf die Gesichter der Besucher abdriftet. Nicht weniger amüsant der vertrocknete Kunstpudel, der mit ernster Kennermiene den schönen Arsch der Psyche begutachtet. – „Finger im Po, Mexiko / Paris, Athen, Auf Wiedersehen“.

Es wäre wünschenswert, wenn diese Orte geschlossen würden und das so eingesparte Geld zu einem kleinen Teil der Forschung, zu einem großen neuen Digitalisierungstechniken zugute käme. Damit entfiele der quälende Besuch der Museen. Vielleicht verleiht die Ausstellung in einem eigens dafür konstruierten Raum dem Bilde tatsächlich etwas Einzigartiges, das von keinem Medium reproduziert werden kann – ob aber auch die schwitzend-schwatzenden Besuchermengen vor ihm zu seiner „Aura“ beitragen? Zu rechnen ist mit derart radikalen Politiken ohnehin nicht. Zu stark sind noch immer die Entscheidungen und Mittel des 19. Jahrhunderts und das Interesse, mit dem so genehmen Mittel der Kultur Macht zu demonstrieren. Ein Blick auf Ausmaß und Fassade derjenigen Gebäude, die eigentlich nur Speicher sein sollen, genügt um Zweck und Mittel in diesem Kalkül zu erkennen.

Sonntag, 23. September 2007

Der Straßenkünstler

Vor dem Centre Pompidou. Ein Straßenkünstler unterhält die Menge – so scheint es zumindest. Tatsächlich hält er sie in seinem Bann. Er jongliert und führt sehr geschickt akrobatische Kunststücke vor. Dabei feuert er die Menge an. Seinem beschwörenden Französisch-Englisch mag sich kaum einer entziehen. Als einer der Flanken sich aufzulösen beginnt, springt er zu ihnen hin und führt die verlorenen Schafe zu der Herde direkt an seinem Platz zurück. Selbst mit dem Vorsatz, nicht seiner Darbietung, sondern seiner Arbeitsweise zusehen zu wollen, geht von diesem Manne Faszination aus. Er hat sowohl seinen athletischen Körper bis zur letzten Faser im Griff, als auch die Menge, die sich noch immer von ihm amüsiert wähnt. Ein solcher Mann könnte es wohl überall weit bringen. Zugleich erweckt er den Eindruck, dass sein Zauber mit einem Male wirkungslos würde, steckte man ihn in einen Anzug und stellte ihn vor Wähler oder Aktionäre. Solche Leute brauchen wohl die absolute und das heißt: die Freiheit der Narren und Schausteller, um gedeihen zu können. Und doch: in einer etwas besseren Welt würde er zumindest nebenbei an der Schule lehren – Sport und Philosophie, als ein Fach.

Samstag, 22. September 2007

Kater

Cimetiére de Montmartre. Die Sonne hinter einem Aluminiumhimmel versteckt, nur gelegentlich dringen schmerzhafte Strahlen durch. Das erste Laub liegt auf dem Kopfsteinpflaster und raschelt unter müden Schritten. Hier und da andere Besucher, die die großen Namen der Beerdigten ablaufen. Ihnen wird einiges geboten; mit seinen ungemein vielen Grüften und Skulpturen wirkt der Friedhof wie eine Nekropole. Hier ist eindeutig, für wen solche Orte eigentlich gemacht sind: Überall prangen die Familiennamen, die gewesene Biosubstanz der Stadt.

All diese Gefallsucht widert an; dem Tod wird kein Raum gelassen. Einer der Besucher sprach zu Recht nicht von Verfall, sondern davon, dass einige der Grabkammern schon „heruntergekommen“ seien, der Besuch es aber doch wert ist. Der Friedhof passt zu der Stadt und dem eitlen Stolz, den ihre Gebäude überall ausstrahlen. Jedes von ihnen versucht, das andere noch zu übertrumpfen, jedes Grabmal den Blick der Lebenden möglichst auf sich zu ziehen. Das führt zu einer Billigkeit, die aus Übermaß erwächst.


Sonntag, 16. September 2007

Privilegien II

Sonne, Elite. Nicht unter 1,5 [Flaschen Wein]. Hahnenschrei oder Blöken? Blut, erhitzt bei hoher Luftfeuchtigkeit und berechneter Raumtemperatur. „Post-Nachkriegszeit.“ Schwimmen, Sterne, Strandgut schmort. „Reaktiv reagieren“. Und zwischendurch verdauen, sowohl Fisch als auch Fleisch. Jubel: Wein für alle! Verständigungsfragen? – „And the princess and the prince discussed what’s real, and what’s not.“

Freitag, 14. September 2007

Verlorene Posten II


Abends Spaziergang an der Küste. Teile des „Atlantikwalls“. Die Bunker sind verschüttet, aus den Schießscharten grünt es. Einige wenige Bunker sind noch begehbar. Blick durch die Schießscharte, während draußen unendlich langsam die Abendsonne niedergeht. Wellen, Wind – sie haben das Leid in und vor solchen Posten längst davongetragen. Ein letzter Blick durch die Scharte: Eine streng gerahmte Welt; man sieht, was man sehen soll. Verstimmt zurück.

Sonntag, 9. September 2007

Gleichnis

Sacré Coeur. Wie oft an solchen Orten ersetzt das Museale die verlorene Funktion. Man kommt hinein und gerät sogleich in den zähflüssigen Besucherstrom. Wächter walten mit Ernsthaftigkeit ihres Amtes. So muss eine Chinesin ihre bloßen Schultern bedecken. Amüsant, dass der Hinweis von einem indischen Wächter kommt.

Im Inneren kann man kleine und große Kerzen zu 2 oder 10 € kaufen Ein Asiate, der daran vorbeigeht, teilt es sogleich lachend seiner Gruppe mit. Seltsam: Auch wenn keine Bindung zu einem solchen Ort besteht, so widert dieses Verhalten doch an. Trotz ihres Substanzverlustes strahlt die Kathedrale nach; das, wofür sie stand, kann noch in den Dreck gezogen werden.

Draußen Menge der Touristen und derjenigen, die von ihnen leben. Ganze Straßenzüge scheinen nur zu diesem Geschäft geschaffen, ganz so als hätte es die Gleichnis von den Kaufleuten im Tempel nie gegeben. Wer aber wagte es heute die Krämer der Kirchen zu verweisen?

Donnerstag, 6. September 2007

Privilegien I

Kassel, Unternehmensethik. Wir verziffern die Welt und haben Spaß dabei. Ethik: Was soll ich tun? Funktionalisiert und als Dienstleistung angeboten: Handle so, dass deine Kosten sich rechnen.

Samstag, 1. September 2007

Rückkehr

Nachts festgesetzt in Hannover. Asyl in einer Bahnhofskneipe. Am deutschen Wesen genesen: Schlager bis 4.00, Bier nur gegen Sofortbezahlung. Zwei Afrikanerinnen zanken mit einem betrunkenen Polen, der Deutsche zwischen ihnen brabbelt in eine andere Welt hinein; alle schunkeln zu Heino. – „Aw, mama, is this really the end?“

Donnerstag, 30. August 2007

Feuer

Verbrennung von Korrespondenz. Das Feuer frisst sich durch schwere Worte; die Asche fliegt mit bewundernswerter Leichtigkeit dahin. Dem Papier folgt zeitverzögert die Erinnerung.

Feuer als Ordnungselement. Eine Lektion, die schon das Kind gelernt: Wenn es die Überreste der abgenagten Forelle in das Lagerfeuer hielt, wurde sie bis auf das Gerippe gereinigt. Ließ es sie zu lange im Feuer, so blieb nichts.

Dienstag, 21. August 2007

Datenverlust

Hinter dem anfänglichen Ärger und Schrecken eine Ermahnung, für die man dankbar sein muss. Was ist schon verlorene Arbeitszeit? "Arbeit zieht Arbeit nach sich", der Inhalt bleibt zweitrangig. Und die fein parzellierten Erinnerungen, all die Fotos? Was sich nicht als Erinnerung im Hirn erhalten kann, dem war vermutlich von vorneherein kein langes Leben beschieden. Schließlich ganze Korrespondenzen; ihre Substanz, ihre Schwere, verflüchtigt sich innerhalb einer Sekunde. Aber auch das, was "bedeuten" mag, muss ohne Schmerz verloren gehen. Es gehört zu den Ausscheidungen eines Lebens und die Lust, derartiges "aufzuheben", hat etwas zutiefst Unhygienisches.


Datenverlust ist ein Geschenk, gerade im "Informationszeitalter": Gepäckerleichterung, die an die Maßstäbe gemahnt und schließlich auch Vernichtungsarbeit abnimmt, die man zu lange aufgeschoben hat.

Samstag, 18. August 2007

Zeitkapsel I

Seit dem 1. Juli gilt in England Rauchverbot, nun auch dort, wo getrunken wird. Diese Maßnahme hat eine unerwartete Auswirkung auf die beliebten Pubs: Nach dem Ausfall des Zigarettenrauchs als alles überdeckender Geruch stinkt es dort nach abgestandenem Bier, Schweiß und Urin. Das missfällt den Gästen, zumindest solange sie noch nüchtern sind. Daher setzen Pub-Besitzer nun auf künstliche Wohlgerüche. Als beliebt erweist sich der Synthetikduft frisch gerauchter Zigarren - er erinnert die Kunden an alte Zeiten.

Sonntag, 12. August 2007

social butterfly

Neue Mitbewohnerin. Nach westlichen Maßstäben adrette Erscheinung: Kleidet sich wie andere Chinesinnen, also nach amerikanischem Globalstil, kann die Kleidung allerdings auch ausfüllen. Bei der ersten Begegnung hat sie Schwierigkeiten den Ofen zu bedienen - sie weiß nicht, wie er funktioniert, und verzweifelt an der Zweisatzanleitung auf der Pizzaschachtel. Für die Beratung ist sie dankbar, auch für den Hinweis, dass Trockennudeln nicht im Kühlschrank gelagert werden müssen. Wie andere Asiatinnen äußert sie ihre Dankbarkeit in einer unangenehm offenen, aber anscheinend aufrichtigen Bewunderung.


Nach ihrem Abgang Reue: Solchen Leuten darf man nicht helfen. Ein Mensch, hier Frauentypus, der durch traditionelle Erziehung, eigene Berechnung und endlich Dummheit auf beiden Seiten gelernt hat, dass man mit attraktivem Äußeren und einem Dauerlächeln überall durchkommen kann, egal wie dumm, einfältig oder kurzsichtig man auch ist. Das Leben solcher Menschen ist empörend leicht und es ist unrecht, es noch leichter zu machen, während so viele andere darben. Doch gliche die Ablehnung gegenüber diesen von Natur aus Begünstigten derjenigen gegenüber einem treudoofen Hund; sie erforderte unmenschliche Bösartigkeit. So spielt man also mit und macht die Welt zu einem schlechteren Ort. - Selig sind die geistig Armen; ihrer ist die Erde reich.

Sonntag, 5. August 2007

Walk on the Wild Side

Manchester, Samstagnacht. Nach Newcastle nochmalige Steigerung des bekannten Bildes: Infernalisches Gewummer, stechende Beleuchtungen und knappe Camouflage brünstiger Leiber. In einer Fressbude um die Ecke kostenloses Volkstheater: Zwei junge Mädchen in enthüllendem Schwarz und ihre Stecher in spe torkeln herein. Der Laden ist kurz davor zu schließen, die Knechte hinter der Theke lächeln müde. Die Mädchen drängen auf Einlass in die schon abgeschlossenen Toiletten. Die Knechte, zwei Asiaten, lehnen ab, lassen sich auch nicht von dem ritterlichen Verweis der Männchen erweichen, dass es doch bittende "ladies" seien. Die Knechte verweisen auf den Herren der Toiletten, wenig überraschend einen Schwarzen. Der Riese thront gelangweilt hinter einem Absperrband. Die beiden "ladies" schieben sich ungelenk darunter hinweg und betteln in schrillen, sich überschlagenden Stimmen um einen gütigen Wink, versuchen schließlich ihn, der nicht nachgeben will, zu becircen. Dieweil die beiden an dem Starrsinn oder der Müdigkeit des Scheißhauswärters scheitern, verstricken sich ihre trunkenen Verehrer in eine Nebenhandlung. Angelockt von dem Auflauf in dem Laden haben weitere Trunkenbolde ihn betreten. Einer von ihnen trägt ein T-Shirt, das einem der Rittersleut voll Fehl und Tadel gefällt. Innerhalb einer Minute haben die beiden ihre Hemden ausgetauscht und die Differenz verrechnet. Die Mädchen geben auf und verfluchen den "prick", der lässig vor sich hingrinst. Weiteres Strandgut der Nacht wird angespült.



Allgemein zehrt die Stadt von ihrer proletarischen Substanz. Das fällt bereits an der für westliche Verhältnisse ungemeinen Verschmutzung der Stadt auf; man wird kaum einen sauberen Platz finden, sofern er nicht zu einem der neu erbauten und gut bewachten Einkaufszentren gehört. Dazu kommt das Filmisch-Amerikanische dieser Stadt mit ihren breiten Strassen, dem kosmopolitischen Trubel, dem Sirenengeheul und den heruntergekommenen Apartmenthäusern. Das wird wohl Folge der Verwandlung einer abgewrackten Industrie- zu einer angesagten Partymetropole sein.


Freitag, 3. August 2007

Brücken

Bristol, Clifton Suspension Bridge. 1864 erbaute Hängebrücke von Weltruf. Wie alle ambitionierten Brückenprojekte geht sie weit über die reine Funktion, Punkt A mit Punkt B zu verbinden, hinaus. Eine Metapher für den Fortschritt, gebaut in einer fortschrittsgläubigen Zeit. Es verwunderte nicht, wenn vor allem der Geltungsdrang der Viktorianer zu diesem Meisterwerk der Ingenieurskunst bewegt hat: Dass zwischenzeitlich ein Aufstand in der Stadt die Bauarbeiten verzögerte, das Kapital ausging und endlich ihr Konstrukteur, der damals viel gerühmte Ingenieur Isambard Brunel, gestorben war, scheint mehr zu der Entstehung solcher Prestigeobjekte zu gehören als widrige und nebensächliche Umstände auszumachen.


Heute ist die Brücke gut gesichert. Überwachungskameras, Wachleute, ein Telefon mit direkter Verbindung zu den Samaritern, die "Tag und Nacht" da sind. Auf Nachfrage die Antwort, dass es trotzdem noch pro Jahr zwei "fatalities" gäbe. Weitaus häufiger lassen sich heute allerdings Hochzeitsgesellschaften vor der Brücke ablichten. Ein fragwürdiges Hintergrundmotiv.


***

Bristol, kleine Brücke in einer Fußgängerpassage. Ein Bettler sitzt an einem Ende und verdingt sich mit erbärmlichem Trommelspiel auf einem alten Pappkarton. Zwei zwielichtige Gestalten tauchen auf. Sie fordern ein "Ticket" von dem Elenden und nehmen etwas von dem Kleingeld aus seiner Brusttasche. Er schaut wie ein zu oft geprügelter Hund und beginnt erneut sein monotones Getrommel.

Das Schlimme an seiner Lage ist es, dass das Unglück ihm am helllichten Tage und unter Hunderten seiner Artgenossen widerfährt, wobei er dennoch nicht die geringste Hilfe zu erwarten hat. Selbst wenn man den Passanten, die ihn achtlos übergingen, sein Unglück erläutern würde, hätten sie dafür wohl kaum Verständnis: Er ist bereits am Boden, da fallen neue und kleinere Verletzungen, und mögen sie ihm auch Katastrophen sein, nicht mehr auf. - Das Feuchte in den Augen, das verletzt-einfältige Gesicht, mit dem er zwei Nichtsnutzen, aber doch zwei Fordernden unter hundert Unachtsamen begegnete, überhaupt das Aussichtslose seiner erbärmlichen Bettelei - das ist der Brunnen, aus dem Kafka schöpfte.

Dienstag, 31. Juli 2007

Metropolis XII

British Museum aus chinesischer Sicht: Ein Hort aus aller Welt zusammengeraffter Kultur, Beute eines gewesenen Empire. Der erste Eindruck trügte also nicht. Zugleich die Frage, was hier rein monetär die wertvollsten Stücke seien.


Gute Bilder für den Geist der Stadt: Ein junger Mann in Maßanzug, der auf einer Vespa den zahllosen Zerstreuungen der Stadt entgegenfährt. Zuvor auf einer Wiese mit Touristen und sich erholenden Londonern; der Obdachlose, der hier mit seinem ganzen Hab und Gut schlief, fiel nicht auf. Vermutlich bliebe auch sein Tod einige Stunden unbemerkt.

Humanismus

Aus dem seriösen Qualitätsjournalismus:

"Zivile Opfer: Nato will kleinere Bomben in Afghanistan werfen"

Donnerstag, 26. Juli 2007

Schmetterling

Ein Schmetterling fliegt über den Kieselpfad. Er streift den Schuh. Der Gedanke zuzutreten verfliegt so rasch wie er kam: Das ist doch ein Schmetterling! Bei einer Fliege, einer Mücke oder einem Kartoffelkäfer gäbe es dagegen weniger Bedenken. Das Kind lernt, die Schönheit eines Schmetterlings oder den Fleiß einer Ameise zu achten und "Schädlinge", "Ungeziefer" sowie "Geschmeiß" zu meiden und zu verachten. Ein Maßstab, der die Welt verkehrt und schon viel Unglück hervorgebracht hat. - Der Schmetterling flattert davon.

Montag, 23. Juli 2007

Dekadenz III

Alnwick Castle. Sehr gut erhaltene, „wie neue“ Schlossanlage. Hier wurden die Harry Potter Filme gedreht und der Name fällt entsprechend oft, öfter als der Name der Schlossherren. Es sind die Percys, die Earls und Dukes von Northumberland, deren Sippe die Anlage seit dem 14. Jahrhundert bewohnt.

In den repräsentativen Räumen wie Bibliothek und Speisesaal verschandeln neben anderen Geschmacklosigkeiten wie den drei ausgestopften Familienhunden vor allem die Familienfotos die museale Atmosphäre, in der selbst der Staub seine Geschichte zu haben scheint. Eine Engländerin betrachtet ein peinliches Urlaubsfoto und stellt überrascht fest, dass diese Leute gewöhnlich aussähen. In den Ecken Wärter, von denen einige die Arroganz der Lakaien großer Herren ausstrahlen. Eine von ihnen ist mit Seidenschal und herrischer Gouvernantenstimme bewaffnet. Auf die Frage, warum die Öffentlichkeit diese Räume überhaupt betreten dürfe, wenn sie doch noch von den Percys bewohnt werden, antwortet sie: „The family wants to make the precious antiques available to the public.“ Nach einer kurzen Pause: „And it helps to sustain the castle.“

Die Antwort bezeichnet das Ironische solcher Orte. Sie gehören Relikten der Geschichte, die bis auf einen klingenden Namen nur noch wenig haben und auf die Eintrittsgelder des Pöbels angewiesen sind, um wenigstens ihre ererbten Statussymbole behalten zu können. Obwohl es noch immer einige Einfältige gibt, die von einer alten Rangordnung ausgehen und in diesen Leuten etwas Besonderes sehen wollen, sind Bedeutung und Wirkung des Adels längst verkommen. Es erfüllt mit Genugtuung, in solche Räume einzutreten und sich von ihrem Interieur ostentativ anwidern zu lassen. Man nimmt damit sowohl der Sippe wie dem Ort die mühsam inszenierte Restwürde. Jahrhunderte lang haben ihre Vorfahren Land und Leute abgeschöpft, um all das hier zu schaffen und von Generation zu Generation weiterzugeben; heute kommen die Nachfahren jener Leute, um einen Sonntagnachmittag in diesem historischen Curiositätenkabinett zu verbringen und die Fotos einiger seltsam benannter Zootiere zu begaffen. Vielleicht ist das auf lange Sicht der größte Vorzug der Demokratie: Die alten Herren sind gefallen oder zu Witzfiguren verkommen und die Arbeitsleistungen der Allgemeinheit fallen wieder der Allgemeinheit zu. – So führt Verfall zu Klärung.

Sonntag, 22. Juli 2007

Dekadenz II

Im Grunde genommen ist Des Esseintes Idealist radikalster Schule. Mit der gemeinen Welt kann er spielen, sie aber nicht akzeptieren. Er führt daher seinen ererbten Reichtum einem guten Zwecke zu und schafft sich im ländlichen Exil seine eigene künstliche Welt. Wie jeder vorwiegend geistige Bau ist sie eine schlechte Wohnstätte. Sein Arzt, nicht zufällig als "Mann von Welt" charakterisiert, rät ihm am Ende des Buches folglich zur Rückkehr in das verabscheute Paris, das heißt: in die Wirklichkeit.


Des Esseintes' Haltung ist respektabel, aber in jeder Hinsicht unpraktisch und "künstlich" durch und durch. Selbst wenn er könnte, kämpfte er nicht um sein Leben, sondern verschaffte sich einen letzten Genuss, indem er den Untergang der Titanic in allen Nuancen zu erfassen versuchte. Seine Pläne sind von bestechender Präzision, lassen aber die banalsten Tatsachen außer Acht und müssen daher scheitern. Ein Brief seines alten Vorbilds Zola ist bezeichnend: Der Intellektuelle, der auch heutigen Anforderungen an die instrumentelle Intelligenz entspräche, ging nach der Lektüre von A rebours alle Bilder im Einzelnen durch. Das zentrale Bild der vergoldeten Schildkröte lobte er, gab jedoch zu bedenken: "Eine bourgeoise Sorge hat mich beschäftigt; glücklicherweise stirbt das Tier, denn es hätte sonst auf den Teppich gekackt."

Samstag, 21. Juli 2007

Dekadenz

Huysman, A rebours. Beeindruckender Materialismus bis in kleinste Verästelungen hinein; in Details sowie der generellen Kraftlosigkeit allerdings abstoßend. Am stärksten das Kapitel über die Schildkröte, die Des Esseintes, der Protagonist, erst vergolden, anschließend mit Juwelen verzieren lässt, damit sie farblich zu seinem Teppich passe. Der Versuch, die Natur durch ein Höchstmaß an Kunst zu übertreffen; die Schildkröte geht ein. Dieses Bild kann die restliche Lektüre ersparen, die sich größtenteils verliert in Zergliederungen feinster Sinneseindrücke, Huysmans' persönlicher (und verstaubter) Literaturkritik und immer wieder sympathischen, aber vorhersehbaren Gewetters gegen das elende Jahrhundert und seine Schmierendarsteller. Des Esseintes Anmaßungen dagegen, die Natur und die Gesellschaft, manipulieren zu können, ragen aus diesem Einerlei heraus: So sein Versuch, einen Jungen drei Monate lang in ein Bordell mitzunehmen, ihm dann jedoch die weitere Finanzierung dieser Vergnügen zu versagen und damit hoffentlich einen Verbrecher aus ihm zu machen, der stehlen und morden muss, um seine Lust weiterhin zu befriedigen, und damit der verhassten Gesellschaft schadet. Ebenso der Kauf abscheulicher Pflanzen, die aussehen, als seien sie von Menschenhand oder aus menschlicher Verwesung gemacht.

Des Esseintes gilt als Ahnherr der Décadents und Typen wie Patrick Bateman oder der kürzlich verstorbene "Ur-Ur-Enkel" Bismarcks werden mit ihm verglichen. Ein dummer Vergleich, der nur zeigt, dass es keine Dandys mehr gibt. Überdurchschnittlich viel Geld für Wein, Weib und Gesang auszugeben, Perversionen zu kultivieren, die heute allenfalls "special interests", wenn nicht gang und gäbe sind, und - wie jener "Bismarck" - Frauen mit einem geistlosen "Verehrteste, um Ihrem Hals müssten Diamanten hängen!" zu begrüßen, machen noch längst nicht den verfeinerten Kunstmenschen aus. Dazu passt auch der Bedeutungsverlust des Begriffs "Dekadenz"; dieser Tage ist damit vor allem der Verfall gemeint, der korrumpierte und korrumpierende Konsum, nicht mehr aber die letzte Stufe einer Entwicklung, die zur vollsten Blüte treibt, ehe die Blätter verbraucht zu Boden sinken. Des Esseintes ist im 21. Jahrhundert unvorstellbar; die Voraussetzungen fehlen - sie sind in den Ruinen des bürgerlichen Zeitalters verloren gegangen.


Heute könnte Des Esseintes einen neuen, popkulturellen Namen annehmen, halb Pin-up, halb Massenmörder, und mit seinen Marotten viel Geld verdienen. Anschließend würde er wegen Tierquälerei verklagt werden. - Die "Nützlichkeitsapostel" haben gesiegt.

Freitag, 20. Juli 2007

Regentropfen

Aus einem Brief:

"Was mir an den Intellektuellen und ihrer Weltenschau so zuwider ist, ist ihr Hang zum Egozentrismus: Dieses Getue, einzigartig und erhaben zu sein, diese Neigung, das Innenleben mit dem eigentlichen Leben zu verwechseln, diese Arroganz gegenüber der nackten Materie, der Natur der Dinge! Ich kann vieles von dem, was diese Leute geschaffen haben und vor allem heute hervorbringen, nicht ertragen. Ich will stattdessen Worte, Bilder und Musik von Menschen, die wissen, dass sie nicht mehr als Regentropfen im Leben sind: In ihnen spiegelt sich die Um-Welt für die lächerlich zufällige Dauer ihres Lebens und seiner nicht minder zufälligen Umstände. Was solche Menschen hinterlassen, ist nichts anderes als protokollierte Wahrnehmung und sie ist in dem Maße wertvoll, in dem sie über die Einzelnen und ihre Nichtigkeit hinausgeht. Nur solche Protokolle verdienen das schon stark abgegriffene Prädikat „klassisch“."

Mittwoch, 18. Juli 2007

Gott & Geld

Tagesschau, Bericht von der Börse. Laut Umfragen des "Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung" ist die Konjunkturstimmung gedämpft. Der Börsenkorrespondent: "Die Unternehmen sind etwas optimistischer, äh, pessimistischer geworden und haben dementsprechend die Konjunkturaussichten relativ schwarz gemalt für die letzten, äh, die nächsten Monate". - Man mag dem Mann keinen Strick aus seinen Versprechern drehen; er ist in einer schwierigen Lage: Jeden Tag verziffert er gemeinsam mit anderen "Experten" das Handeln von Milliarden von Menschen und kommt dabei erstaunlicherweise nur zu allgemeinsten Aussagen. Wie der Priester jedoch muss er diese Binsenweisheiten zu jedem tagesaktuellem Anlass predigen können ohne die Herde mit verdächtig viel Gleichmaß zu verdrießen. Gott und Geld - die folgenreichsten Erfindungen menschlicher Eitelkeit. Der Glaube an das Geld anerkennt immerhin den Tod als das Ende dieser Spielereien.

Montag, 16. Juli 2007

Haltungen

Ein Frosch sitzt bewegungslos am Straßenrand. Autos rasen dicht an ihm vorbei. Selbst beim Näherkommen bewegt er sich nicht. Eine beeindruckende Ruhe inmitten der Gefahr. Er wird erst dann springen, wenn es notwendig ist.

In diesem Lande ist die "stiff upper lip" schon vor einiger Zeit aus der Mode gekommen. Stattdessen wie überall im Gefolge von Angebot und Nachfrage die gespielte Emotion derer, die sich verkaufen müssen. Gesten einer falschen Nähe und affektierte Mimik im Zusammenspiel mit maßloser Emphase. Es reicht nicht, dass Waren und Leistungen verkauft werden; Umstände und Vorgang des Verkaufs lassen sich ebenfalls verkaufen.

Gleichwohl gehört das zu den Formen dieser Zeit; wie früher Zöpfe, wallendes Haupthaar, Pulver und Perücken, so zieren heute gebleichte Zähne und das digital wie chirurgisch nachbearbeitete Gesicht die bel étage der Gesellschaft. Eine ehrgeizige und aufstiegswillige Mitte ahmt die Vorgaben nach und macht sie erst „populär“, dieweil unten für derartige Spitzfindigkeiten weder Sinn noch Geld besteht.

Freitag, 13. Juli 2007

Positionsrahmen einfügen

Traum. Bei Nacht auf einem Friedhof, um ein offenes Grab mit Erde zuzuschaufeln. Diese stammt von einem benachbarten Grabhügel, darin verscharrt ein granitener Grabstein, der schon bei sanfter Berührung zerbröselte. Ein unbekannter Samariter hilft bei der nicht enden wollenden Arbeit. Am selben Tage dann ein unerwarteter Abschied.

Man kann es sich leicht machen und so etwas ignorieren. Ebenso leicht: Darin verworrene Verknüpfungen von Motiven, Gedanken, Erinnerungen usw. zu sehen, es also "zu erledigen". Wie erklärt sich aber die zeitliche Präzision? - Überflüssige Gedanken, die ein bekanntes, aber nutzloses Phänomen ergründen wollen - aus solchen unbestimmten Bildern Handlungsanleitungen gewinnen zu wollen, wäre töricht.

Der Wert liegt stattdessen in der Rückschau. So ging diesem merkwürdigen Ende ein nicht minder merkwürdiger Beginn voran; der flüchtige Eindruck eines Schädels in den Zügen der Unbekannten war vor Jahren eine Notiz wert. Heute erfährt er ein angemessenes Ende. - Das war's dann wohl: Ein Zwinkern des Universums.

Sarkastisch auch ein anderer, älterer Traum. Die Wahl, entweder zu einem hundertjährigen Bettlägrigen in seiner hohen Zitadelle hinaufzusteigen oder in einem flachen Nebenbau einen der großen Skarabäen aus Gold mitzunehmen. Damals kryptisches, gleichwohl dunkel verstandenes Vexierbild. Aus der Rückschau eine gute Pointe. - Je regarde et je garde.

Mittwoch, 11. Juli 2007

conquer & devour

N., Chinatown. "Hot pot" Büfett, passender: "all you can eat" des Unaussprechlichen. Es werden gereicht: Zungen, Eingeweide, Mägen, Geschlechtsteile und amorphes Gewebe. Diese werden dann in eine siedende Brühe geworfen, nach einigen Minuten herausgefischt und hinabgeschlungen. Fragen, was dieses oder jenes genau gewesen sei, bleiben unbeantwortet. "Spezialitäten". Durch die scharfen Gewürze und das Öl schmeckt alles ohnehin ähnlich und kann wegen der gummiartigen Konsistenz nur heruntergewürgt, nicht zerbissen werden. Zusätzlich gilt es ökonomisch zu essen: So viel wie möglich und nur die teuersten "Spezialitäten", damit sich der Besuch auch lohne. Eine Geschäftstüchtigkeit, bei der einem aller Appetit vergeht: So schmeckt also der Sieg der Ziffer.

Später an einem der zahlreichen Orte, an denen das Leben billig und willig ist. Auch hier nimmt die Ziffer der Sache allen Reiz; lustlos und mechanisch verzehrt Massenware sich selbst. Hier sind alle Siege nur kurzweilig und widern schon bei der ersten Berührung an. Wer bestehen will, braucht Kaninchenmut.

Dienstag, 10. Juli 2007

Aus Kühlkammern

Borowski, Proszę Państwa do gazu (Bitte, die Herrschaften zum Gas). Skelettierter, am Faktischen gebildeter Stil. Nimmt seine Zeit in Auschwitz zur Kenntnis wie man eine Straßenszene oder ein Billardspiel zur Kenntnis nimmt. Da konnte bei aller Zustimmung nach dem Kriege der Vorwurf des Nihilismus und des Zynismus nicht ausbleiben. Tatsächlich trägt eine solche Bejahung der eigenen Existenz zynische Züge. Über den Rabbi, der in der Baracke laut aus einem hebräischen Gebetbuch vorliest ("im Lager besteht kein Mangel an solcher Literatur"), regt der Erzähler sich nicht auf: "Sie werden ihn so noch eher in den Ofen schicken". Generell seine Arbeit in einem Kommando, das einfahrende Züge empfing, "entlud" und die Neuangekommenen Richtung Gas weiterleitete. Bei der abschließenden Säuberung der Wagons trug er groteske Kinderleichen "wie Hühner" hinaus. Sein Zynismus ging über Auschwitz hinaus; 1951 wählte er den Freitod, indem er sich in seiner Wohnung selbst vergaste.

Später erneut Lord of War. Brillante Satire des internationalen Waffenhandels und etwas mehr. Der Waffenhändler führt nicht nur seinen Beruf mit großer Sachlichkeit und Effizienz aus, sondern überträgt diese Prinzipien auf sein restliches Leben, das damit zur Ableitung wird: Er inszeniert Zufälle und Zusammenhänge, die Glück simulieren. Der Bruder, die Frau und der Sohn sind Größen, die zunächst aufgehen, dann aber der Filmlogik folgend erst unsicher werden und schließlich die Gleichung sprengen. Trotzdem, und das ist bezeichnend, wird der "lord of war" zwar bestraft, nicht aber geläutert - sein Prinzip hat sich bewährt und er darf weiter seine Funktion erfüllen.

Das Leben als Uhrwerk, das zwar äußerst unzuverlässig, aber doch ausreichend absehbar arbeitet, und zwei Charaktere, die ihre Position und die Anderer darin erkennen und auch etwas von seiner Funktionsweise verstehen. Der Zynismus ist dabei nur der äußere Schein einer unerschütterlichen Haltung, eines reduzierten Stoizismus, der ohne ideologischen Überbau auskommt und ganz auf dem Einzelnen als seinem Träger gründet. Der Waffenhändler braucht zuletzt nur drei Zeilen, um seine vorangehenden Taten und ihren Mangel an Moral zu erklären: "That is the secret to survival: Never go to war. Especially with yourself."

Sonntag, 8. Juli 2007

Ministry of Peace

Ein hochdekorierter Admiral und ehemaliger "First Sea Lord" wird "Sicherheitsminister". Wenige Tage darauf gibt er in einem Interview wenig Überraschendes bekannt. Er, der seit seiner Jugend der Royal Navy gedient hat, verabscheue die Bezeichnung "war on terrorism", weil sie den Wert des Krieges herabsetze. Es sei nun auch die Zeit gekommen, da die Briten sich unbritisch verhalten müssten; "Verpfeiffen" und der Gang zu den "Behörden" seien nun gefragt: "I'm afraid, in this situation, anyone who's got any information should say something because the people we are talking about are trying to destroy our entire way of life." Ob darunter auch der Aufruf zur Zerstörung der "Britishness" fällt? Vermutlich nicht, denn in 10 bis 15 Jahren soll die Anti-Terror-Strategie der vier Ps (prepare, protect, pursue, prevent) erfolgreich abgeschlossen sein. - Und in dieser Zeit herrschte große Verwirrung, ob der Krieg gegen Eastasia oder Eurasia geführt wurde.

Samstag, 7. Juli 2007

Geburtsschmerz

Eines der frühesten Argumente für den Pessimismus war die Geburt. Warum war das Leben schlecht? Weil schon die Geburt Schmerz bedeutete und das Kind dabei schrie. Mehr Bild als Argument, eine einfache Beobachtung samt einfacher Erklärung. Aber hat sich seit dieser Zeit etwas verändert? Liegt nicht noch immer in jeder Geburt notwendigerweise viel Schmerz, die das neue Leben in dieser Welt willkommen heißt? Dagegen ist es möglich aus derselben "zu entschlafen". Gleichzeitigkeiten, die schwer zu verstehen sind und um die sich das Leben zu Recht nicht schert.

Das Relief

Zu den lehrreichsten, gleichwohl undankbarsten Erfahrungen gehört die Begegnung mit dem Relief. Gewohnt, großflächig zu sehen, wird das feingearbeitete Relief auf den ersten Blick gefangen nehmen. Es wird lange Zeit erstaunen, wie sich Licht und Schatten in ihm vereinigen und beide ihm seine ungewöhnliche Tiefe verleihen. Wie oft wird man vor ihm stehen, bewundernd, Zeit und Raum vergessend, nur um diese Tiefe zu ergründen. Vielleicht denkt man dabei: Wer nur hat Dich erschaffen? Doch irgendwann kommt die Zeit, da man seine Rückseite findet. Vielleicht hat ein mitleidvoller Fremder darauf hingewiesen, vielleicht fragte man sich auch, wie das Licht wohl aus einem anderen Winkel einfalle. Die Enttäuschung ist dann so groß wie die Fallhöhe, aus der die Bewunderung nun stürzt. Die Rückseite ist platt, glatt, matt. Härte und Temperatur des undurchdringlichen Materials werden erst jetzt bewusst. Wer nur hat Dich so erschaffen, mag man fragen – und lachend davongehen.

Mittwoch, 4. Juli 2007

Dr Death

Die Verdächtigen sind Ärzte oder Medizinstudenten, einer ist Laborant. Damit hat der Feind eine weitere Schwachstelle ausfindig gemacht und ausgenutzt. Auch ist es ein Indiz für seine Niedertracht: Nicht das Ausnutzen muss ihm übel genommen werden, sondern das Verdächtigmachen bisher unbescholten gebliebener Gruppen und Institutionen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis auch Kinder zum Einsatz kommen. In konventionellen Kriegen hat man ihre Brauchbarkeit längst bewiesen. Sobald die geeigneten Kontrollmechanismen gefunden sind, werden auch sie Bomben tragen; der Verdacht wird sich tiefer in die Gesellschaft fressen.

Schon jetzt sitzt er tief. Nicht die zusätzlich aufgebrachten Polizisten, in deren Gewehrmündungen die Antwort des Leviathans aufblitzt, sind die erste Folge der Anschläge. Es ist das tiefere Misstrauen, mit dem man etwa die Studenten aus dem Nahen Osten beobachtet. Nicht Bösartigkeit oder Xenophobie schüren die Ressentiments.
Vielmehr ist ein Zustand erreicht, in dem man nicht mehr wissen kann, wer die anderen sind.

Dienstag, 3. Juli 2007

Papier & Tinte

Die Japanerin sieht einen vierseitigen Brief auf dem Tisch liegen und staunt, wie viel das sei. Eindruck, sie setze das Schreiben eines Briefes mit dem Ausfüllen vieler leerer Seiten gleich. Dabei ist der Brief im Gegenteil eine konzentrierte Form der Kommunikation. Er verlangt ein gespanntes Bewusstsein und fördert das Denken schon rein mechanisch.

Leider entspricht das nicht dem heutigen Stellenwert des Briefes. Briefe schreiben stellt einen hohen Zeitaufwand dar. Die Frage lautet daher: Qualität eines Briefes oder Quantität anderer Medien; das Zählen aber lernt der Mensch vor dem Schreiben. Wer sich dennoch für den Brief entscheidet, tut das unter ungünstigen Erwartungen, die das Museale und den Status der Liebhabertätigkeit betonen. Das ist vor allem dort der Fall, wo der Stil mit einem Male unnatürlich wird und das Lächerliche streift, wo Fragen nach wertvollen Materialien und der richtigen Atmosphäre gestellt werden und wo das beschriebene Papier wahlweise zu etwas „Wahrem“, „Geistigem“, „Wertvollem“ usw. nobilitiert wird. Welches Missverhältnis zwischen einfacher Aufgabe einerseits und Assoziationsballast eines Mediums andererseits. Man muss sich wundern, dass unter diesen Bedingungen überhaupt noch Briefe geschrieben werden. Dazu das schlechte Gewissen unnötige Spuren zu hinterlassen.

Andrerseits die Eigenschaft als Filter: Man wird sich hüten all die Zeit auf die Verschriftlichung von Small Talk zu verwenden. Zudem das Bemühen um sprachliche Hygiene und ein echtes Interesse an der Antwort des Anderen. Schließlich serielle Kommunikation statt Gleichzeitigkeit und Zerstreuung.

Sonntag, 1. Juli 2007

Abschiede

Turnus. Die Studierenden des letzten Jahres machen sich auf den Weg zurück und verwehen in alle Himmelsrichtungen. Dieweil nehmen Neue ihre Stellen ein, nach wenigen Tagen schon gleichen sich die Aussichten. Es gehört zu den Verlegenheiten von Abschieden, dass noch viele Worte und großes Aufhebens gemacht werden, auch dem „pressing the flesh“ entgeht man nicht.

Solches kann wohl nicht ausbleiben. In jedem Abschied ist etwas vom letzten Lebewohl und wie schwer ist es das zu akzeptieren. Da sind Vertröstungen, Lügen und Sentimentalitäten verzeihlich. In der Tat ist es schwer der Widrigkeit des Scheidens angemessen zu begegnen. Sachlichkeit wird nicht geschätzt, wäre indes die kürzeste Abwicklung. So bedarf es anderer Mittel, etwa des Sarkasmus. Der linientreuen Chinesin Der Untertan geschenkt, dessen englischer Titel The loyal subject stärker wirkt. Als Widmung: „historia magistra vitae“. Eine Geste der Verschwendung, aber von ausgesuchter Wirkung: Einem kleinen Tod mehr ins Gesicht gespuckt.

Später im Botanic Garden: Von der Vorhut des Frühlings ist nichts mehr zu sehen. Sie verblühte rasch und verfiel leise unter der Blüte ihrer Nachfolger.

Samstag, 30. Juni 2007

Letzte Worte

Nachts, Durchsicht von Exzerpten. Der Diarist hat sie 1941 angefertigt. Stammen aus Briefen französischer Männer, die willkürlich interniert und im Rahmen von „Vergeltungsmaßnahmen“ hingerichtet wurden. Einige halten auf, unterbrechen das Gleichmaß der Arbeit und ziehen schließlich die Gedanken zu sich herab.

„R. Laforge

Ich sterbe ohne Religion, mit ruhigem Herzen und dennoch ein wenig bedrückt. Ein Lebewohl an Paul, Georges, Jeanne. Alle schreiben wir unsere Abschiedsgrüße und behelfen uns, wie es möglich ist. Die Gendarmen, die uns bewachen sind noch bleicher als wir.“

Auszug: „Sei mutig, meine Liebe. Dies ist ohne Zweifel das letzte Mal, daß ich Dir schreibe. Heute werde ich gelebt haben.“

„Dies ist mein letzter Brief. In einigen Minuten wird ein endgültiger Strich unter mein Leben gesetzt werden. Sei tapfer. Denke an die Kinder, und wenn Du auf Deinem Wege einen Kameraden findest, der Deiner würdig ist, so zögere nicht. Liebe, beginne Dein Leben von neuem, Du bist noch jung.“

Der Brief, nach dem die Lektüre enden muss, ist der sachlichste:

„Liebe Nachbarin, ich soll heute erschossen werden. Ich sage Ihnen Lebewohl. Bekümmern Sie sich um meine Frau. Ich danke Ihnen für alles, was sie für mich getan haben.“ – Das Beiläufige des Abschieds ist unerträglich rational und dadurch auch von einer Schärfe, die sich zum Vorbilde eignet. Vielleicht ist das einzig Tröstende solcher Begebenheiten, dass sie das Beste im Menschen hervortzutreiben vermögen.

Montag, 25. Juni 2007

Abendmahl

Eingeladen zu einem der letzten Abendmahle, wie sie sich zum Ausklang des Jahres hin mehren. Solche Veranstaltungen gleichen einem intensiven Arbeitsprozess: Während es hässliches, aber hervorragend zubereitetes Getier möglichst elegant zu zerlegen gilt, darf die Tischdiplomatie nicht vernachlässigt werden. Vor allem dann nicht, wenn die Einladung mit einem klar erkennbaren Hintersinn erfolgt ist: Zünglein an der Waage sein. Damit ist auch das Mechanische des Vorganges vorgegeben. Die Gesichter regelmäßig auslesen, Worte zählen, die An- und Abstoßungskräfte zwischen den Tafelgästen bestimmen und dazwischen die Weinzufuhr regulieren. Schwierig wird es, wenn das Getriebe ins Stocken gerät, weil es zu staubig ist im Niemandsland zwischen den Kulturen. In diesem Fall ist Humor das Schmiermittel der Wahl. Die simpelste ist zugleich die wirksamste Form: Sich zu dem Narren machen, den jeder größere Tisch braucht. Das Tischgespräch ist dann vollständig zur Bühne geworden und der Abend verspricht zu gelingen. Die Belohnung: Allseitige Zufriedenheit und Beifall für den Komödianten.

Post festum: Warum Clowns traurig sind und die Hungrigen lieber allein essen.

Freitag, 22. Juni 2007

Randnotizen

Vor dem Fenster spielen die Inder wieder Cricket. Schönes Beispiel für die Folgen jahrhundetelanger Erziehung.

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Gespräch mit Chinesen. X. erzählt von Tibet und der Gefahr, die dort mit Busreisen verbunden ist. Die Gebirgsstrassen seien oft sehr nahe am Abgrund und es komme regelmäßig zu schweren Unfällen. Schon ihr Bau habe einen hohen Blutzoll gefordert: „Man sagt: Auf jeden Kilometer zehn Leben.“ Sie spricht das mit größter, aber noch nicht prätentiöser Beiläufigkeit aus. – Ein erstaunliches Maß – und das in Friedenszeiten, gleichsam als Bestandteil des Alltags. Gelangweilte Wohlstandskinder können ruhig glauben, dass Politik – „Demokratie“ und „Menschenrechte“ – China zu einem „besseren“, das heißt: einem angeglichenen Ort machen werden. Sie unterschätzen dabei die Menschen und ihr Verhältnis zum Leben.

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Leben in D. – ein endloser Beach Boys song. Allerdings ist der Sprößling nicht mehr auf Papas T-Bird angewiesen, sondern mietet sich eine Stretchlimo. Bisweilen mag man sich fragen, was aus dem „understatement“ geworden ist. Vermutlich zusammen mit der Würde versoffen.

Dienstag, 19. Juni 2007

Lebensfäden

Unheimlich, wie sich Lebensfäden verspinnen. Ein langes Lebewohl, eine andere Zimmernummer und ein weltkundiger Mentor ermöglichen eine Perspektive, die noch vor wenigen Monaten nichts als Phantasterei gewesen wäre: Nihil est in intellectu quod non prius fuerit in sensu. Dabei sind es sind nur wenige Lebensfäden, die schon jetzt sichtbar werden. Wie viele aber bleiben dem Auge verborgen?

Das mag eine weitere Altersprämie sein: Unter dem Staub der Jahre das Gewirr der Lebensfäden entwirren. Zur Bitterkeit des Alters gehört es dann, dass alle Erkenntnis zu spät kommt. Indes ist die Aussicht nicht schlecht, das wichtigste Rätsel kurz vor Abgabezeit zu lösen: Wozu war man da? Hier ist höhere Neugier das Unterpfand eines langen Lebens.

Dienstag, 12. Juni 2007

MasseMensch

Aus dem Land der Mitte. Dort ist der Held derjenige, der sich für das Wohl der Gesamtheit opfert. Die klassischen Typen, die wohl in jedem Kriege Konjunktur haben: Soldaten, die in den sicheren Tod gingen, damit die Mission / die Kameraden / die Frauen / Kinder / usw. gerettet würden. Beispiel aus dem heutigen Alltag: Ein Mann fällt in einen Fluss und droht zu ertrinken. Nacheinander springen drei weitere in den reißenden Strom. Alle vier ertrinken. In den Nachrichten werden die drei unvorsichtigen Helfer als Helden gefeiert.

Solche Geschichten erhöhen den Drang, das Land und seine gewaltigen Ausmaße aus der Nähe zu studieren. Doch gilt es sich davor zu hüten, lediglich den Kontrast zu suchen, d.h. als Reisender aus der Alten Welt zu kommen, überhaupt Bildungsreisender zu sein. In solche Länder reist man nicht wegen ihrer Geschichte oder Kultur, sondern um den Menschen als Gattungswesen zu begreifen.

Montag, 11. Juni 2007

gnädig grausam

Eine Mücke umfliegt die Enge der Zelle. Ein unbedachter Schlag und sie verschwindet. Stunden später die Entdeckung, dass sie noch lebt. In einer Ecke liegt sie gekrümmt da, zucken ihre Beinchen unregelmäßig. Die feinen Flügel sind zerrissen, bewegen sich vergeblich. Das menschliche Auge reicht nicht für weitere Details, genügt aber, um den strahlenden Schmerz zu erkennen. Mit einem schnellen Fingerdruck entweicht das Restleben. Unachtsamkeit als grausamste Ursache des Schmerzes.

Da sie Teil der Natur ist, erregt sie wenig Anstoß, ist vielmehr überall dort zu finden, wo das Leben Kampf ist. Das umfasst größere Teile des menschlichen Bestandes als denen lieb sein kann, die gelehrt von „naturalistischem Fehlschluss“ reden. Die Einzelnen bewegen sich, streben, soweit sie nicht von der Substanz zehren, „nach oben“. Auch ohne den Willen zum Kampf findet so Verdrängung statt, landen die Verlierer, die Schwächeren und Pechvögel im Abseits. Ein Blick hinter die Lenkräder endloser Transporter, auf blank geputzte Flure, ausgebesserte Kanalanlagen deutet an, welcher Natur dieses Abseits ist und welcher Verschleiß dort stattfindet. Die menschlichen Späne bleiben unbeachtet, auch ihre Leistung, die das Leben an der Oberfläche erst möglich macht.

Dort herrschen zwei extreme Meinungen. Der Zyniker gibt unumwunden zu, dass er lediglich Ruhe vor den Depravierten haben will, um sich ungestört an seinen Gewinnen delektieren zu können. Dafür ist er bereit große Geld-, Sach- und Propagandamittel aufzubringen. Der Humanist dagegen leugnet den Kampf, spricht stattdessen von Demokratie, Fortschritt und Kooperation. Und während es ihn unter seinesgleichen verschlägt, wo man sich an Kunst, Kultur und den feineren Dingen des Lebens zu erfreuen weiß, schlägt man sich darunter durch.

Sonntag, 10. Juni 2007

grausam gnädig

Botanic Garden. Ein Kaninchen. Beim Näherkommen läuft es nicht davon. Verwunderung, bis der entstellte, wie verweste Kopf sichtbar wird. Die Augen herausgekratzt, an einigen Stellen zerschmolzenes Milchglas. Die Augenhöhlen sind mit Flechten überwuchert; kein Eiter. Es muss sich um eine alte Wunde handeln, vielleicht von einem Raubtier, vielleicht von einem Artgenossen geschlagen. „Lange machst du es nicht mehr.“ Das Kaninchen frisst weiter an den Mohnblumen und lässt sich von der milden Abendsonne bescheinen. Seine Sicherheit gewinnt es aus dem Vorzug, die Welt nicht mehr sehen zu müssen. Die Natur ist ebenso grausam wie gnädig.

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